Riho Terras: Wie ein estnischer General die EU aufmischt

Brüssel statt Bunker: Der ehemalige Oberbefehlshaber der estnischen Streitkräfte Riho Terras hat eine neue Frontlinie gefunden. Seit 2020 ist er der General im Europaparlament, macht dort als Abgeordneter der konservativen estnischen Partei Isamaa“ (zu Deutsch Vaterland) Politik. Sieben Jahre lang, von 2011 bis 2018, war er zuvor für das gesamte estnische Militär verantwortlich. Was bringt so jemanden ins Europäische Parlament? „Meine Partei hat mir das vorgeschlagen und ich dachte, ich versuche es mal.“ Terras spricht neben Estnisch, Englisch und Russisch fehlerfrei Deutsch. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Im zwölften Stock des Europaparlaments in Brüssel liegt das Büro des 57-jährigen Abgeordneten. Es ist ein Eckbüro mit bodentiefen Fenstern, die einen weiten Blick über die Stadt ermöglichen. Ein Schreibtisch, zwei Schränke, ein Sofa und zwei Sessel füllen den Raum. Keine Plakate, keine Fotos. Ungewöhnlich schlicht für ein Abgeordnetenbüro, in denen es üblicherweise von Hinweisen auf die Parteizugehörigkeit nur so wimmelt. Terras sieht das ganz anders, springt aus seinem Stuhl: „Ich habe hier mein Kochbuch, das ich selbst geschrieben habe!“ Und tatsächlich, neben seinem Schreibtisch liegt ein schmales, unscheinbares Buch. „Der General in der europäischen Küche“. Eine Sammlung von 26 Interviews mit Terras' Kollegen aus ganz Europa, die unter anderem verraten haben, was ihr Nationalgericht ist. Der estnische Europaabgeordnete Riho Terras hat ein eigenes Kochbuch geschrieben, das seine Leidenschaft fürs Kochen und die Politik zusammenbringt. Eine Reise durch Europa in 26 Gerichten. Quelle: Privat Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Gefolgt von Rezept und Umsetzung von Terras. „Deutschland wird leider durch ein österreichisches Gericht präsentiert“, erklärt er etwas verlegen. Kaiserschmarrn. Sein Lieblingsgericht ist jedoch ein anderes: „Wiener Schnitzel. Das geht immer.“ Eines von 26 Gerichten im selbst verfassten Kochbuch des estnischen Europaabgeordneten Riho Terras. Das "Vini Schnitzel" ist das Lieblingsgericht des Ex-General. Quelle: Privat Von der Verteidigung zur Landwirtschaft und zurück Das Gespräch mit dem Abgeordneten verteilt sich auf zwei Tage. Denn immer wieder kommen diverse Termine und andere Hürden in die Quere. Der Tag des ersten Treffens startet für Terras bereits anders als geplant: Er hat die Schlüssel für seine Brüsseler Wohnung - eine seiner insgesamt vier Wohnungen - vergessen und musste den Vormittag damit verbringen, an den Zweitschlüssel zu kommen. Ganz durchschnittliche Probleme, in einem nicht ganz so durchschnittlichen Leben. Quelle: Privat Eigentlich wollte der Ex-General, der sein gesamtes Berufsleben im Militär verbracht hat, Abstand von Verteidigungsthemen nehmen. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 habe das auch geklappt, erzählt er. Die erste Zeit als Abgeordneter habe er im Bereich Landwirtschaft gearbeitet, und das sehr gerne. Seit seiner Wiederwahl ins Parlament im Sommer 2024 ist er Vizevorsitzender im Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung des EU-Parlaments. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Beim Stichwort Landwirtschaft werden Terras Augen plötzlich groß: Sein ältester Sohn ist Politiker in Estland und gerade zum Landwirtschaftsminister ernannt worden. Dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt, erfüllt ihn sichtlich mit Stolz. „Es wäre natürlich schöner, wenn er Innenminister oder sowas wäre, aber Landwirtschaft ist auch gut“, sagt Terras in nicht ganz erstem Ton und mit einem Lächeln im Gesicht. „Hier gefällt es mir besser.“ Riho Terras, Europaabgeordneter für Estland Er selbst wollte nicht in die estnische Politik. „Ich sage es mal so: die ist schmutziger. Hier gefällt es mir besser.“ Auch im Vergleich zu seiner Zeit beim Militär gebe es im Europaparlament so manche Vorteile. Er könne sich mittlerweile selbst aussuchen, wen er treffen und welche Schwerpunkte er legen möchte. „Als Befehlshaber muss man jederzeit für alles und jeden da sein.“ Trotzdem gibt es auch Nachteile gegenüber der Karriere beim Militär, erzählt Terras. Wenn ein General eine Entscheidung treffe, dann sei das so. „Darüber wird nicht gestritten, das Thema wird nicht am nächsten Tag neu aufgerollt“, sagt er lachend. Ein kleines Signal in Richtung EU-Politik, in der es schon mal vorkommt, dass Vereinbarungen nach kürzester Zeit wieder in Frage gestellt werden. „Keiner sagt Baltikum!“ Und dann sitzt da noch ein sprichwörtlicher Elefant im Raum. Es ist der Krieg in der Ukraine und die Sorge, dass Russland bis 2030 womöglich auch ein EU-Mitglied angreifen könnte. Vor allem die Länder des Baltikums - Estland, Lettland und Litauen - könnten als ehemalige Sowjetstaaten im Visier des Kremls liegen. Da reißt es Terras aus den eigenen Gedanken. Mit einem Hauch von Empörung sagt er: „Ich weiß nicht, was das Baltikum ist!“ Kurz herrscht Stille in dem kleinen Büro. Und Anspannung. Während der Begriff Baltikum eine in Deutschland geläufige Bezeichnung für die Länder Estland, Litauen und Lettland ist, will der estnische Politiker davon nichts wissen. „Keiner sagt Baltikum. Was soll das überhaupt sein? Das sind doch drei komplett unterschiedliche Länder - mit eigener Geschichte, Sprache, Kultur und Glauben.“ Das Baltikum habe es schließlich nur in den 1950er Jahren gegeben, in denen alle drei Staaten von Russland besetzt und Teil der Sowjetunion waren. Davor habe es keine gemeinsame Geschichte der drei Staaten gegeben. Estland selbst sei erst 1918 ein eigenes Land geworden. „Der Begriff ‚Baltikum‘ bedeutet für mich nichts", erklärt Terras eindringlich, aber sachlich. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Ob Baltikum oder nicht. Die Wortwahl ändert nichts an der Tatsache, dass Europas Sicherheitsbehörden ein reales Risiko für einen russischen Überfall sehen. „Die Möglichkeit besteht und ich weiß, dass wir uns darauf vorbereiten müssen. Aber wir müssen uns nichts fürchten. Furcht hilft niemandem“, erklärt Terras die Bedrohungslage so nüchtern, wie man es von einem Mann des Militärs erwarten würde. Ein bisschen Frust und der Wunsch nach Mehr Zwar ist der 57-Jährige in der Reserve seines Landes und würde sofort wieder kämpfen, wenn sein Land ihn ruft. Doch trotz seiner militärischen Expertise ist er überzeugt, seinem Land als EU-Abgeordneter mehr zu nützen. Denn es gibt noch viel zu tun. Mit der Verteidigungspolitik in Brüssel ist Terras nicht besonders zufrieden. Es sei zwar gut, dass die EU Gelder für die Rüstungspolitik der Mitgliedstaaten bereitstelle. Ob jedoch alle zugreifen, stünde auf einem ganz anderen Blatt - und genau das sei ein Problem. Sichtlich gefrustet ist Terras über eine ganze Reihe von EU-Staaten, die nicht genug für ihre Verteidigung ausgeben. Spanien, Portugal, Luxemburg, Österreich und Irland lägen weit hinter den Anforderungen. Das sei schlichtweg nicht fair, so Terras. „Auch die Menschen in Estland wünschen sich soziale Sicherheit. Trotzdem haben wir jetzt entschieden, künftig 5 Prozent unserer Wirtschaftskraft für die Verteidigung auszugeben.“ Aber selbst das reiche nicht, weil Estland nun mal ein kleines Land und die Summe daher gering sei. Deswegen hoffe er auf Einsicht bei den anderen Staaten. Schließlich sei für jeden nachvollziehbar, was Putins Pläne sind. „Wenn Russland kommt und uns erobert, was glauben Sie passiert mit der spanischen oder österreichischen Wirtschaft?“. Terras spricht energisch, aber unaufgeregt. Sachlich und militärisch-diszipliniert. Und trotzdem schwingt in seinen Worten der Ernst der Lage mit. Wenn Russland einen EU-Staat angreife, sagt er eindringlich, dann treffe es alle – ob direkt oder indirekt. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Dass einige Mitgliedstaaten immer noch die Augen davor verschließen, erklärt Terras mit einfacher Psychologie. „Man versucht, sich davor zu schützen, indem man es verdrängt. Man will es nicht glauben, weil es unangenehm ist, sich der Wahrheit zu stellen. Deswegen sei es so wichtig, noch stärker zusammenzuarbeiten, so der Europapolitiker. Ein Beispiel sind Sammelbestellungen für die nationalen Armeen. Nicht mehr jedes Land sollte bei Rüstungsunternehmen alleine bestellen, sondern die EU könnte eine Sammelstelle organisieren, die die Bestellungen bündelt. Das würde nicht nur zu preislichen Vorteilen führen. Über Sammelbestellungen könnten sich die Staaten ebenfalls absprechen, welche Waffen und Systeme sie kaufen und für mehr Einheitlichkeit sorgen. „Und wenn dann jedes Land so viel leistet, wie es in der Theorie soll, dann reicht das für ein starkes Europa auch“, resümiert er. In Terras Heimat Estland wurde kürzlich eine Verteidigungssteuer eingeführt, um das Militär aufzurüsten. Der Ex-General hält jedoch nichts davon: „Man darf Verteidigung und Gesellschaft nicht so gegeneinander stellen.“ Das Problem sei, dass höhere Steuern die Wirtschaftsleitung des Landes schwächen, weil den Menschen monatlich weniger Geld zur Verfügung stünden. „Um ein Land verteidigen zu können, muss auch die Wirtschaft funktionieren“, sagt Terras. Er plädiert eher dafür, Kredite aufzunehmen, ähnlich wie es Deutschland kürzlich gemacht hat. „Das ist wichtig, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen und Investitionen in die Infrastruktur zu ermöglichen.“ Pause muss sein - auch als Politiker Aber nicht alles in seinem Leben dreht sich um Sicherheit und Verteidigung. „Ich würde verrückt werden, wenn ich keine Pause machen würde“, sagt Terras und lacht. Schon in seiner Zeit beim Militär waren ihm Auszeiten wichtig. „Ich habe mir immer Zeit für mich genommen. Im Kraftraum, in der Küche oder mit dem Gewehr im Wald“, erzählt er. Seit kurzem hat er ein weiteres Hobby, um den Kopf frei zu bekommen: Spaziergänge mit seinem neun Monate alten Enkel. „Wenn ich mit dem Kind spazieren gehe oder spiele, habe ich keine Zeit für die großen Themen.“ Ein Themenwechsel, der zeigt, dass auch jemand, der täglich über die Verteidigungspolitik seines Landes und der EU verhandelt, ein ganz normaler Mensch ist. Einer, dessen Familie ihm die Kraft für seine Arbeit gibt. „Natürlich mache ich mir Sorgen, was für eine Welt wir diesem Kind hinterlassen. Hinzu kommt, dass einer meiner Söhne Reserveoffizier ist und der andere jetzt seinen Wehrdienst antritt.“ Schon deshalb tue er alles, um einen Krieg zu verhindern. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Während der Gespräche spielt Terras immer wieder mit einem Siegelring, den er an seiner linken Hand trägt. Es ist ein Ring des Royal College of Defence Studies in London und eine tägliche Erinnerung an den Ort, an dem er sich am liebsten aufhält. Vor allem die Anonymität in der britischen Hauptstadt hat es ihm angetan. „Ich bin sehr froh, wenn mich niemand erkennt“, sagt er zum Abschluss.