Peter Schneider: „Die Mauer in den Köpfen steht noch“

Berlin. Der Berliner Schriftsteller, Chronist und Analytiker der deutschen Zeitgeschichte, wird am Ostermontag 85 Jahre alt. Ein Hausbesuch. Ob ich ihm ein Stück Kuchen, „irgendetwas mit Zitrone“, mitbringen könne, fragt er auf dem Handy, als ich schon auf dem Weg zu ihm bin. Er habe einen ziemlich schlimmen Bandscheibenvorfall, aber dazu später mehr, sagt er. Der Schriftsteller und Essayist Peter Schneider – einer der einflussreichsten Wortführer der damaligen Berliner Studentenbewegung – ist mager geworden, denke ich, als er die Tür seiner Erdgeschosswohnung im Gartenhaus in Wilmersdorf öffnet. So hatte ich ihn nicht in Erinnerung. Vor Jahren saß der vitale Denker zufällig neben mir im „Florian“ in der Grolmannstraße. Die beiden Wirtinnen luden am zweiten Weihnachtsfeiertag immer ihre Stammkunden ein. Das Lokal war eine West-Berliner Institution, ein zweites Wohnzimmer für Publizisten, Schauspieler und Künstler. Nach dem Mauerfall, als sich der Westen merklich leerte, konnte es sich halten. Nun ist es geschlossen. Wie so vieles unwiederbringlich verschwunden, das einmal den alten Geist dieser Insel verkörperte und den Schneider in seinen vielen Büchern konserviert hat. #60 Berlin Review/Chap Books/Jacques Schuster Berlins schönste Seiten - der Literaturpodcast Er muss meine Verwunderung bemerkt haben. Er habe immer um die 80 Kilo gewogen, sagt er, wie man auch auf einem großen Schwarz-Weiß-Foto sieht, das an der Wand lehnt und ihn mit dem Dichter Thomas Brasch in Feierlaune zeigt. „Auf einmal waren es 60 Kilo.“ Dass Schneider, am 21. April 1940 in Lübeck geboren und in Freiburg aufgewachsen, am Ostermontag 85 Jahre alt wird, sieht man dem nunmehr drahtigen Dichter nicht an. Der Gewichtsverlust wurde zunächst auf die Vereiterung im Rücken zurückgeführt, bis man einen „bösartigen Nierentumor“ entdeckt habe. „Ich bin unheilbar krank, inkurabel.“ Er nehme ein Antibiotikum ein, das den Krebs aufhalte. „So kann er sich nicht mehr ausbreiten.“ Schneider sagt das mit einer Nonchalance, als handle es sich um ein verstauchtes Knie. Er wolle übrigens bald einen „scharfen Artikel“ über das Thema Sterbehilfe schreiben. Jeder Mensch habe schließlich das Recht, „aus welchem Grund auch immer, einen selbstbestimmten Tod zu wählen“. Lesen Sie auch: Wilhelm Raabe zeichnet die Menschenwelt als Affenwelt Die Krankheit hat ihn bei seiner Arbeit zurückgeworfen, sein neuer Roman „Die Frau an der Bushaltestelle“, der im Deutschland der 60er-Jahre spielt, sollte dieser Tage erscheinen, jetzt kommt er im November heraus. Natürlich wird seine große Liebe „L.“ ihren Auftritt darin haben. Zentral gehe es um die Schuldfrage der Eltern während des Dritten Reichs. „Man gab immer den anderen die Schuld, aber nicht den eigenen Eltern. Ich versuche, ein paar Konstanten meiner Generation in dem Roman zu zeichnen.“ Drei Wochen habe er gerade in seinem Haus in der Nähe von Sperlonga weiter daran gefeilt. Im Berliner Wohnzimmer mit Blick auf einen schönen Garten, den nur er benutzt, stehen meterhohe Bücherregale. Sofort surrt die innere Filmkamera im Kopf, kein einziges Requisit müsste man dazustellen. Man sieht einen jungen Schriftsteller am Schreibtisch, der Anfang der 70er-Jahre an seiner Erzählung „Lenz“ arbeitet. Der Titelheld steigt aus dem studentischen Milieu aus, geht nach Italien (wie Schneider selbst), erlebt eine von Solidarität geprägte Arbeiterschaft und kehrt dann doch wieder nach Berlin zurück. Ein Freund fragt ihn, was er jetzt tun wolle. „‚Dableiben‘, erwiderte Lenz.“ Das Bändchen wurde ein Besteller, avancierte zu dem, was einen so unschönen Namen hat: zum Kultbuch. Da hatte sich Schneider längst entradikalisiert, sich von der Verstiegenheit seiner jungen, revolutionären Jahre abgewandt. Weil ihm nach seinem Lehramts-Studium aber dennoch durch den „Radikalenerlass“ der Referendardienst verweigert wurde, schrieb Schneider weiter, das nächste Buch hieß „…schon bist du ein Verfassungsfeind“. Mit seiner Erzählung „Der Mauerspringer“ aus dem Jahr 1982 gelang ihm eines der bedeutendsten und originellsten Werke über den bizarren Alltag der deutschen Teilung, über diese „siamesischen“ Stadt, wie er Berlin nannte. Ein internationaler Erfolg, er verschaffte ihm viele Lehrtätigkeiten an den Elite-Unis der USA. Schneider prägte darin den Slogan von der „Mauer im Kopf“ – viele Jahre vor deren Fall: „Die Mauer im Kopf einzureißen, wird länger dauern, als irgendein Abrissunternehmen für die sichtbare Mauer braucht“, heißt es darin. Ob diese Mauer noch stehe, frage ich ihn. „Ja, die steht noch“, sagt Schneider. „Ich habe damals, als ich das schrieb, gedacht, das dauert auf jeden Fall eine Generation. Jetzt können wird von der dritten Generation sprechen. Kinder kriegen eben mit, was die Eltern ihnen erzählen und was sie bei der Wiedervereinigung erlebt haben. Viele waren plötzlich arbeitslos. Dann hat diese Bundesrepublik zwar blühende Felder versprochen, blühende Gärten, aber sie hat sich nie Gedanken darüber gemacht: Wie kriegen wir das hin?“ Auch interessant Literatur Eberhard Hilscher: Traumgeschichten eines Unangepassten Von Uwe Sauerwein Das einst geteilte Deutschland bleibt eines seiner großen Lebensthemen, an dem er sich auch in amerikanischen, italienischen und französischen Zeitungen publizistisch abgearbeitet hat. In all seinen Verästelungen. Hier ist er kaum zu stoppen. „Viele DDR-Deutsche wollen bis heute nicht zugeben, dass sie bis auf diesen großartigen Aufstand vom 17. Juni 1953 sich in der Mehrheit mit dieser Diktatur arrangiert haben“, sagt er. Stehen die AfD-Erfolge in den neuen Bundesländern in einem kausalen Zusammenhang mit der DDR-Vergangenheit? Es sei eher „Trotz“, glaubt Schneider. „Das sind auch nicht alles Faschisten. Es gibt faschistische Jugendorganisationen, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, die auch tatsächlich Nazi-Embleme mit sich herumführen. Aber das trifft doch nicht auf die vielen Millionen Wähler zu, die die AfD wählen. Das ist wieder so eine typisch deutsche Angelegenheit: ‚Ich bin der bessere Mensch als du, weil ich auf der richtigen Seite stehe‘“, sagt Schneider. Auch interessant Premierenkritik Lässiges Gedenken an Thomas Brasch Von Katrin Pauly Sätze wie Faustschläge, auch wenn er spricht. In einem Tagebucheintrag aus den Sechzigern, den er in seinem Erinnerungsbuch „Rebellion und Wahn“ (2008) zitiert, heißt es in Kleinschreibung: „Mir ist die klarheit, die rücksichtslose verständlichkeit eines satzes immer wichtiger gewesen als seine schönheit.“ Dabei schreibt Schneider sehr wohl schöne Sätze. So wie es Truman Capote einmal formulierte: „Für mich ist die größte Freude am Schreiben nicht das, worum es geht, sondern die Musik, die die Worte erzeugen.“ Schneider gesteht ein, dass er – sein Vater war Dirigent – durch Musik geprägt ist und damit auch seine Prosa. „Insofern wird mir mein eigenes Zitat da nicht gerecht.“ Dass sich Worte zu grässlichen Melodien verdichten und die Gesellschaft mit ohrenbetäubenden Krach aufschrecken können, davon zeugt sein lebenslanger Kampf gegen den Springer-Verlag. 1967 war er nach dem Attentat auf seinen Freund Rudi Dutschke der Mitorganisator eines „Springer-Tribunals“. Es kam nicht dazu, auch weil Rudi Dutschke mit Gefolge die Schaufenster von sieben „Berliner Morgenpost“-Filialen zum Einsturz brachten; die Zeitung gehörte damals noch zum Springer-Konzern. Mehr als drei Jahrzehnte später wollten der damalige „Welt“-Chefredakteur Thomas Schmid (früher selbst ein scharfer Springer-Kritiker) und Mathias Döpfner ein „Springer-Tribunal 2009“ einberufen. Lesen Sie auch: Im Kulturbetrieb gestolpert - „Der Einfluss der Fasane“ Auf Einladung des Hauses sollten sich die damaligen Gegner zum Geschichtsdisput versammeln. Schneider winkte ab, Dutschkes Freund Christian Semler und Grünen-Urgestein Daniel Cohn-Bendit hatten ebenfalls keine Lust. Unter anderem, weil man keine Presse zugelassen habe – „außer der Springer-Presse“, sagt Schneider. „Das sollte eine Werbeveranstaltung für den Springer-Verlag werden. So wie das organisiert wurde, konnte kein unabhängiges Urteil herauskommen. Unmöglich.“ Der Wochenend-Newsletter der Berliner Morgenpost Bestellen Sie hier den wöchentlichen Newsletter mit Tipps zum Wochenende in Berlin Jetzt Anmelden! Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu. Jetzt plane er einen Roman über den legendären „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher, der ihn 1998 in einem Artikel über einen SPD-Kulturtag erwähnte: „Später dann bestieg der Schriftsteller Peter Schneider das Podium. Er sprach beherzt. Offensichtlich war er volltrunken. Er entschuldigte sich dafür. Er stammele, weil er noch an den Folgen seiner durchzechten Nacht mit Oskar Lafontaine laboriere.“ Das Projekt hört sich wie eine posthume Retourkutsche an. Aber Schneider wäre nicht so ein vortrefflicher, witziger und genauer Analytiker, würden ihm jedes Mal beim Schreiben die Pferde durchgehen.