Wenn es in den westlichen Demokratien einen Glaubenssatz gibt, dann diesen: Extremisten müssten inhaltlich beziehungsweise an der Wahlurne gestellt werden, man könne sie nicht im Gerichtssaal besiegen. Deshalb gibt es in Deutschland kein Verbot der AfD und deshalb – so wird jetzt argumentiert – sei es falsch, dass Marine Le Pen wegen Veruntreuung für fünf Jahre von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wird. Schließlich habe ihre Partei bei der letzten Parlamentswahl in Frankreich mehr als 30 Prozent der Stimmen erhalten. Und man könne 30 Prozent Le-Pen-Wählerinnen nicht ignorieren. So wie man auch die Wähler der AfD nicht ignoreren könne. Das Problem an dieser Argumentation: Sie missachtet die Grundlagen eines unabhängigen Justizwesens. Denn Recht ist die Abwesenheit von Politik. Vor dem Gesetz kommt es nicht darauf an, wie viele Wählerstimmen eine Partei gewonnen hat. Sondern auf die begangene Tat. Einen mutmaßlichen Dieb stellt man nicht inhaltlich. Man kümmert sich auch nicht um seine Popularität. Man lässt ihn verhaften. Die Augen der römischen Gerechtigkeitsgöttin Justitia sind hinter einer Binde verborgen. Sie spricht ihre Urteile, ohne die Person anzusehen. Soll das Gesetz nur noch für Sozialdemokraten und Konservative gelten? In der Praxis lassen sich Recht und Politik natürlich nicht immer so eindeutig trennen. Richter sind Menschen, keine Maschinen. Und natürlich besteht die Gefahr, dass Gerichte eingesetzt werden, um den politischen Gegner zu unterdrücken und die Demokratie faktisch abzuschaffen. Es gibt dafür aber empirisch betrachtet bislang nicht sehr viele Indizien. Stattdessen sind autoritäre Regime in Israel, Polen und Ungarn gegen die unabhängige Justiz vorgegangen, während diese in Rumänien die Kandidatur eines rechtsradikalen Bewerbers um das Amt des Staatspräsidenten untersagt hat. © Lea Dohle Newsletter Was jetzt? – Der tägliche Morgenüberblick Starten Sie mit unserem kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag. Erhalten Sie zudem freitags den US-Sonderletter "Was jetzt, America?" sowie das digitale Magazin ZEIT am Wochenende. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Im Fall von Marine Le Pen ist die Lage ohnehin klar: Sie wurde nicht wegen einer möglicherweise verfassungsfeindlichen Haltung ihrer Partei angeklagt, sondern weil sie Steuergelder veruntreut hat. Auch andere französische Politiker – darunter der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy – wurden wegen unerlaubter Parteienfinanzierung mit einem Entzug des passiven Wahlrechts bestraft. Es wäre geradezu einer problematischen Sonderbehandlung gleichgekommen, wenn sich das Gericht im Fall von Marine Le Pen anders entschieden hätte. Oder sollen Recht und Gesetz künftig nur noch für Sozialdemokraten und Konservative gelten, nicht aber für Rechtsextreme? In einer liberalen Demokratie zählt nicht nur der Wille des Volkes Der französische Revolutionstheoretiker Emmanuel Joseph Sieyès unterschied im 18. Jahrhundert zwischen dem "pouvoir constituant" und dem "pouvoir constitué" – der verfassungsgebenden und der verfassten, also sich zum Beispiel in Rechtstexten niederschlagenden Gewalt. Das Volk als Inhaber der verfassungsgebenden Gewalt überträgt diese im Akt der Staatswerdung an ein institutionelles Gefüge. Deshalb zählt in einer liberalen Demokratie nicht nur der Wille des Volkes. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Mehrheitsprinzip in ein rechtsstaatliches Fundament eingebettet ist. In Deutschland ist der Kern der Verfassung explizit unveränderlich und mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattet, die auch mögliche künftige Verfassungsgeber bindet. An einer entscheidenden Stelle will das Grundgesetz vom Volk nichts wissen. Und dafür gibt es gute Gründe. Denn auch das Volk kann sich irren. Deshalb ist es eben nicht undemokratisch, den Rechtsweg einzuschlagen. Die Judikative ist wie die Exekutive ein Element eines gewaltenteilig organisierten Staatswesens und bezieht daraus auch ihre Legitimität. Vielleicht schadet es den französischen Rechtspopulisten, dass Marine Le Pen bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht antreten darf. Vielleicht nützt es ihnen auch. Es sollte für die zuständigen Gerichtshöfe keine Rolle spielen. So wie es für das deutsche Verfassungsgericht keine Rolle spielen sollte, ob ein Verbot der AfD – wenn es denn einmal beantragt werden sollte – der Partei nützt oder schadet. Sondern ob dadurch eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung abgewiesen werden kann.