Alte Fragen nach Polizeischüssen: Tod von Lorenz A.: "Kollegen ermitteln gegen Kollegen"

In Oldenburg erschießt ein Polizist den 21-jährigen Lorenz A. Die Ermittlungen laufen noch, doch bereits jetzt stellen sich altbekannte Fragen: zu Verhältnismäßigkeit, Bodycams und Rassismus. Aktivisten zweifeln an einer unbefangenen Aufarbeitung. Zurecht? Die Oldenburger Innenstadt war am Wochenende ein Ort der Trauer, aber auch ein Ort der Wut. Mehr als 8000 Menschen versammelten sich, um Lorenz A. zu gedenken, der am Ostersonntag durch Polizeischüsse getötet worden war. Sie legten Blumensträuße, Kerzen und persönliche Erinnerungsstücke nieder. Und sie hielten Schilder und Transparente hoch, mit der Forderung nach Gerechtigkeit und Aufklärung. Was genau passiert ist, wird derzeit ermittelt. Bisher bekannt ist: Vor einem Nachtclub geriet Lorenz A. Polizeiangaben zufolge in einen Streit, versprühte Reizgas und lief davon. Menschen, die die Verfolgung aufnahmen, drohte er demnach mit einem Messer. Als er auf Polizisten traf, soll er auch diese mit Reizgas besprüht und danach "an ihnen vorbei" gelaufen sein. Mit einem Messer bedroht hat Lorenz A. die Polizisten ersten Erkenntnissen nach nicht. Dann schießt ein 27-jähriger Beamter mehrfach. Mindestens drei Schüsse treffen Lorenz A. von hinten, unter anderem in den Kopf. Ein vierter Schuss soll ihn am Oberschenkel gestreift haben. Der Schütze wurde vom Dienst suspendiert, gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Totschlags - das übliche Vorgehen. Die Polizei mahnt an, zunächst die Ergebnisse der Ermittlungen abzuwarten. Das verkennt jedoch, dass der Fall Lorenz A. bereits jetzt legitime Fragen aufwirft. Schusswaffengebrauch als letztes Mittel Grundsätzlich stellt sich bei jedem abgegebenen Polizeischuss die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Denn nur als letztes Mittel dürfen Beamte ihre Waffe einsetzen, um Gefahr für Leib und Leben abzuwehren. Im vergangenen Jahr starben bundesweit 22 Menschen durch Polizeischüsse, so viele wie seit 41 Jahren nicht. Im laufenden Jahr war Lorenz A. das elfte Opfer. Der Jurist Thomas Feltes, der die Mutter von Lorenz A. vertritt, führt den Anstieg auf einen fehlerhaften Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen zurück. Die Polizei tendiere dazu, Probleme möglichst schnell lösen zu wollen. "Das ist in solchen Fällen aber kontraproduktiv, weil so die Lage eskaliert", sagte er im Gespräch mit ntv.de. Im Fall von Lorenz A. ließ vor allem der Obduktionsbericht an der Verhältnismäßigkeit zweifeln, denn alle Schüsse trafen den 21-Jährigen von hinten. Zudem rechtfertigt der Einsatz von Pfefferspray dem Kriminologen Michael Jasch zufolge keinen Schusswaffengebrauch - egal aus welcher Richtung geschossen werde, wie er dem NDR sagte. Bodycams waren ausgeschaltet Aufschluss über den Tathergang hätten die Bodycams der anwesenden Polizisten geben können - doch die waren ausgeschaltet. Ob die kleinen Kameras beim Einsatz mitlaufen, liegt im Ermessen der Beamten. In einer Notwehrsituation kann der Griff zum An-Knopf mitunter auf der Strecke bleiben. Der Kriminologe Tobias Singelnstein übte im Gespräch mit ntv.de Kritik am selektiven Bodycam-Einsatz. "Es liegt nahe, dass Polizeibeamte die Bodycam vor allem in Situationen einschalten, wo es ihnen nützlich ist und da, wo es ihnen schaden kann, vielleicht eher ausschalten", so der Forscher der Universität Frankfurt. Dauerhaft mitlaufen dürfen Bodycams aus Datenschutzgründen nicht. In den USA etwa startet die Aufzeichnung allerdings automatisch, sobald eine Waffe oder ein Taser gezogen wird. Im Oldenburger Fall hätte ein solcher Mechanismus zu einem wertvollen Beweisvideo führen können, das den Schützen be-, aber ebenso entlasten könnte. Stattdessen zählt nun die Aussage des Polizisten, gegen den ein Tötungsvorwurf im Raum steht, sowie die Angaben seiner anwesenden Kollegen - weitere unmittelbare Zeugen haben sich bislang nicht gemeldet. "Es ermitteln Kollegen gegen Kollegen" Ein Problem, auf das Polizeiforscher schon seit Langem hinweisen. Zum einen gebe es einen starken, kulturellen Zusammenhalt bei der Polizei, sagte Singelnstein. "Es ermitteln Kollegen gegen Kollegen". Zum anderen neigten Staatsanwaltschaften dazu, Polizeibeamte für besonders glaubwürdig zu halten. In der Praxis heißt das: Anzeigen wegen mutmaßlicher Polizeigewalt haben in Deutschland kaum Aussichten auf Erfolg. Weniger als zwei Prozent der angezeigten Fälle kommen vor Gericht, weniger als ein Prozent enden mit einer Verurteilung. Die Ermittlungen um den Tod von Lorenz A. führt - auch das ist gängig - die benachbarte Polizeidienststelle Delmenhorst. Anwalt Feltes würde sich jedoch mehr Distanz wünschen. Auch, weil auf der Delmenhorster Wache vor vier Jahren der 19-jährige Qosay K. kollabiert war. Er starb einen Tag darauf im Krankenhaus. Der junge Mann war festgenommen worden, weil er auf einer Parkbank einen Joint rauchen wollte. Der Fall ist bis heute nicht endgültig aufgeklärt, ein privates Gutachten nannte als Todesursache äußere Gewalt und Sauerstoffmangel. Statt die Ermittlungen dem Nachbarlandkreis zu übertragen, forderten Politiker von Grünen und Linken die Schaffung einer externen Behörde für solche Fälle. Es brauche "eine wirklich unabhängige Ermittlungsbehörde mit umfassenden Befugnissen", sagte die Linken-Abgeordnete Clara Bünger. Widerspruch kam von der CDU und der Gewerkschaft der Polizei. "Ich habe keine Zweifel, dass auch hier die Ermittlungen professionell und unparteiisch ablaufen", sagte der CDU-Innenpolitiker Alexander Throm dem "Tagesspiegel". Rassismusvorwürfe gegen die Polizei Die Angehörigen und Unterstützer von Lorenz A. haben weniger Vertrauen in die Ermittlungsbehörden. Die Initiative "Gerechtigkeit für Lorenz" schreibt in einem Aufruf: "Wir stehen geschlossen gegen Rassismus, der auch bei der Polizei strukturell ist. Der Mord an Lorenz ist kein Einzelfall." Denn Lorenz A. war schwarz. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Kevin Kaleschka, sagte dem NDR, Diskussionen um möglichen Rassismus seien "viel zu früh". Solange kein umfassender Bericht vorläge, seien sämtliche Mutmaßungen fehl am Platz. Polizeiforscher Singelnstein hingegen hielt dafür, die Vorwürfe ernst zu nehmen. Wie die gesamte Gesellschaft sei auch die Polizei nicht gefeit vor rassistischen Einstellungen, sagte er der "taz". "Es müssen gar nicht unbedingt bewusste Einstellungen im Sinne von Ideologie gewesen sein", sagte Singelnstein. "Aber wäre dieser Einsatz genauso abgelaufen, wenn das eine weiße Person gewesen wäre? Beeinflusst es die Gefahrenwahrnehmung und die Gefahreneinschätzung der Beamten und Beamtinnen vor Ort, wenn es eine Person of Color ist?" Von tödlichen Polizeischüssen seien in den vergangenen Jahren nicht-weiße Menschen in besonderer Weise betroffen. All diese Fragen sind nicht neu: nach der Verhältnismäßigkeit, nach den Bodycams, nach der Unabhängigkeit der Ermittlungen, nach möglichem Rassismus. Sie kommen immer wieder auf, etwa im Fall von Mouhamed Dramé, der 2022 in Dortmund durch Polizeischüsse ums Leben kam. Die fünf nach dem Einsatz angeklagten Beamten wurden im Dezember 2024 freigesprochen. Und auch die Reaktionen ähneln sich damals wie heute: Polizeigewerkschaften und konservative Politiker sprechen von Einzelfällen und fordern eine bessere Ausstattung der Polizei. Aktivisten und eher linke Politiker erkennen ein Muster und fordern mehr polizeiliche Transparenz. "Das Vertrauen in eine Institution, die eigentlich uns schützen soll, steht auf dem Spiel", sagte Suraj Mailitafi, Sprecher der Initiative "Gerechtigkeit für Lorenz", dem "Tagesspiegel" am Rande der Kundgebung in Oldenburg. "Es geht um lückenlose Aufklärung."