Lange vorbei sind die Zeiten, in denen die Bundesrepublik ein durch und durch christliches Land war. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch gehörten weit über 90 Prozent der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an. Zu dieser Zeit wurde der Deutsche Evangelische Kirchentag als protestantisches Großevent mit dem expliziten Anspruch aus der Taufe gehoben, sich pointiert in aktuelle gesellschaftliche Debatten einzumischen. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Politisch zu sein, das gehört gewissermaßen zur DNA des Kirchentags. Das wird in diesem Jahr nicht anders sein, wenn die inzwischen 39. Auflage des Treffens vom 30. April bis 4. Mai in Hannover sein wird. Sich einmischen - auch wenn die evangelischen Christinnen und Christen mit inzwischen weniger als 20 Millionen Kirchenmitgliedern längst aus einer Minderheitenposition heraus agieren. Auch wenn die Teilnehmerzahlen bei den Kirchentagen rückläufig sind. Auch wenn Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), ihres Zeichens Katholikin, sich von den Kirchen mehr Sinnstiftung wünscht und weniger Stellungnahmen zu tagesaktuellen Themen im Stile einer Nichtregierungsorganisation. Amtskirche hatte in der NS-Zeit kläglich versagt Um das Politische des Kirchentags zu verstehen, lohnt ein Blick zurück: Das große Protestantentreffen wurde 1949 als christliche Laienbewegung gegründet und lockt alle zwei Jahre Zehntausende zu Bibelarbeiten, Gottesdiensten und Konzerten. Was dabei auf den ersten Blick wie ein buntes Glaubensfest anmutet, war jedoch eine bewusste Reaktion der Christinnen und Christen auf die düstere Zeit des Nationalsozialismus. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Die Amtskirche hatte in ihren Augen viel zu wenig Widerstand gegen die Diktatur geleistet. Als evangelische Laienbewegung wollte man mit dem Kirchentag einen Counterpart zur verfassten Kirche bilden – und fortan als Schnittstelle zwischen kirchlicher Lehre und Haltung und profaner Welt agieren. Mit dem Kirchentag wollten sich die Laien seit jeher in gesellschaftliche Diskurse einbringen - wie hier 1983 in Hannover. Quelle: IMAGO/Klaus Rose Erster Präsident und Begründer der Bewegung war der Jurist Reinold von Thadden. Schon in der NS-Zeit hatte er sich als Mitglied der Bekennenden Kirche für die Demokratie in Deutschland eingesetzt, und rund um seine Oppositionsbewegung gab es bereits Christentreffen, die als Vorläufer der heutigen Kirchentage gelten können. Die Wurzeln reichen darüber hinaus bis ins Kaiserreich zurück. Gerade jedoch vor seinen Erfahrungen in den Hitler-Jahren, von Kirchenkampf bis Kriegsgefangenschaft, setzte von Thadden seine Hoffnungen in der jungen Bundesrepublik umso stärker auf die Basis, das Kirchenvolk. Laien-Aktivierung als roter Faden der Reformation „Von Thadden bettete die Erwartungen, die er mit dem Kirchentag verband, in umfassendere kirchenhistorische Perspektiven ein“, sagt der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann. So habe er auf dem Essener Kirchentag im Jahr 1950 ganz gezielt an die Rolle der Laien in der Kirche der Reformation angeknüpft, und ein Jahr später in Berlin die „Gemeinde“ ins Zentrum gerückt. Von Thaddens Überzeugung war, dass sich die Aktivierung der Laien „wie ein roter Faden durch die Geschichte der evangelischen Kirche“ ziehe, so Kaufmann. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Der Jurist Reinold von Thadden (3. v. li.) gründete 1949 den Deutschen Evangelischen Kirchentag. Das Bild zeigt ihn im Vorjahr zusammen mit dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich-Wilhelm Kopf (v.li.), dem Landesbischof Hans Lilje sowie dem Dichter Rudolf Alexander Schröder vor der Stadthalle in Hannover. Quelle: picture-alliance / dpa Höchst politisch waren die Kirchentage auch in den Jahrzehnten danach – Ende der 60er-Jahre etwa mit seinen Debatten um den Vietnamkrieg, oder in den 80ern, als es um die nukleare Aufrüstung ging. Die friedensbewegte Christenschar machte die protestantischen Massentreffen zu Hochämtern des Pazifismus. Zudem wurde der Wunsch nach einer weltweiten Ökumene alsbald zu einem fixen Wesensmerkmal der Veranstaltungen, was am Ende sogar im immer stärkeren Fokus des Kirchentags als ein Gemeinschaftserlebnis seinen konkreten Niederschlag findet. Ein rein westdeutsches Phänomen, wie es oft erscheinen mag, waren die Laientreffen aber mitnichten. Bis zum Bau der Mauer waren die Kirchentage klar geprägt von der „gesamtdeutschen Frage“ – auch ein sensibles Politikum, wie der Begriff schon zeigt. In Leipzig kamen 1954 beim Kirchentag rund 650.000 Menschen aus Ost und West zusammen – die bis heute größte protestantische Versammlung in Deutschland jemals. DDR-Kirchen schafften Ort der Gegenkultur Auch nach dem Mauerbau 1961 gab es im Osten weiterhin eine rege Tradition der Kirchentage. Die waren zwar kleiner und etwas weniger politisch als auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs, aber keineswegs bedeutungslos. Im Gegenteil. 1983 etwa versammelten sich rund 100.000 Menschen in Dresden öffentlich zu einem Abschlussgottesdienst. Sichtbarkeit erlangte bei ihrem Treffen insbesondere die damalige Umweltbewegung in den DDR-Kirchen. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Der Kirche gelang es so, sich als eine Art Gegenkultur zur offiziellen Linie des SED-Staates zu etablieren. Kirchentag also in bewusster Opposition zur Diktatur, deutlicher geht der Rückbezug zu seiner Gründungsidee kaum. Die Rolle der Kirchentagsbewegung insgesamt für die friedliche Revolution im Jahr 1989 und die deutsche Wiedervereinigung sollte daher nicht zu gering eingeschätzt werden. Mehr zum Thema „Kirche war immer politisch“ Parteiübergreifender Widerspruch für Klöckners Kritik an den Kirchen In den vergangenen Jahren haben Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz sowie theologische Positionierungen dazu einen immer größeren Rahmen in den Foren und auf den Podien eingenommen. Und auch diese neuen Themen können wieder einmal als vorrangig politisch angesehen werden. Ein entsprechend breites Verständnis, sich aus christlicher Perspektive politisch zu Wort zu melden, kommt bei Bundestagspräsidentin Klöckner offenkundig nicht gut an, wie sie zu Ostern in der „Bild am Sonntag“ deutlich gemacht hat. Kirche werde austauschbar, wenn sie zu beliebig werde und nicht mehr die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod im Blick habe, mahnte die Politikerin.