Zuhause verloren, Freiheit gewonnen – Vater und Sohn besprechen ein Bild

US-Soldaten Anfang April 1945 auf der Wilhelmshöher Allee in Kassel. Der Schutt hinter der Schulter des vordersten GIs rechts blieb vom Elternhaus von Jochen Lengemann Jochen Lengemann erlebte als Kind die Bombenangriffe auf seine Heimatstadt Kassel. Sein Sohn Martin ist Fotograf und Autor bei WELT. Anhand eines Schnappschusses von April 1945 analysieren die beiden das Thema Krieg in der Erinnerung. Anzeige Es ist ein Gespräch zwischen Vater und Sohn: Jochen Lengemann (87), Ehrenbürger von Kassel, war 1954 einer der ersten Schüler, die für ein Auslandsjahr in die USA gingen, 1956 trat er in die CDU ein. Später wurde er Richter, Präsident des Hessischen Landtags und nach 1990 Minister in Thüringen. Er wohnt bis heute in Kassel, seit einigen Jahren auch wieder in der Straße seiner Kindheit. Martin U. K. Lengemann (55), sein Sohn, lebt in Berlin und arbeitet seit 31 Jahren für WELT. WELT: Was zeigt die Fotografie, die H. Miller vom US Army Signal Corps gemacht hat? Anzeige Jochen Lengemann, aufgenommen in seiner Bibliothek in Kassel Quelle : Martin U. K. Lengemann/WELT Jochen Lengemann: Die Befreiung Kassels durch die US-Amerikaner am 4. April 1945 – streng genommen, Soldaten der 80. US-Division, beim Vorrücken in eine neue Stellung, auf der Wilhelmshöher Allee in Kassel, Richtung Westen. Etwa auf Kilometer eins, wenn man vom Ausgang der Innenstadt rechnet. Datiert ist das Foto auf den 5. April. WELT: Das Foto bedeutet für Dich persönlich sehr viel. Warum? Anzeige Jochen Lengemann: Ich habe es etwa Mitte der 1960er-Jahre zum ersten Mal entdeckt. Es hat mich sofort sehr berührt. Direkt hinter der Schulter des vordersten Soldaten auf der rechten Seite ragt der Trümmerhaufen meines Elternhauses heraus: Wilhelmshöher Allee 29 ½ – so hieß das damals. Es war ein roter Backsteinbau. Entstanden etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Wir hatten darin eine Vierzimmerwohnung. Darunter ein komplettes Biedermeierzimmer, welches meine Mutter sich liebevoll eingerichtet hatte. Auch erinnere ich mich noch ganz bildlich an das Küchenfenster, zur Allee hin. Dort setzte mich meine Mutter stets auf das Fensterbrett und brachte mir anhand der vorbeifahrenden Straßenbahnen die Zahlen bei. Meine Lieblingsstraßenbahn war die Nummer 24. WELT: Kassels Innenstadt wurde in der Nacht zum 23. Oktober 1943 zu fast 100 Prozent zerstört, da warst Du fünf Jahre alt. Hast Du Erinnerungen an das alte Kassel? Jochen Lengemann: An zwei Dinge. Den Innenraum der Martinskirche sehe ich bis heute ganz plastisch vor mir. Besonders beeindruckt haben mich großen Leuchter im Kirchenschiff und das Grab des Landgrafen Philipp aus dem 16. Jahrhundert. Eigentlich handelt es sich ja um ein Denkmal, das tatsächliche Grab liegt an anderer Stelle, aber es ist gestaltet wie ein Grab. Das hat mich als Kind sehr beeindruckt, und Gott sei Dank hat es den Krieg nur leicht beschädigt überlebt, weil es im Chor der Kirche eingemauert worden war. Meine zweite Erinnerung ist der Marställer Platz mit seinen jahrhundertealten Fachwerkhäusern. In einem dieser Häuser wohnte Familie Reccius, und die hatten eine elektrische Eisenbahn in Spur 00. All das gibt es seit dieser Nacht im Oktober 1943 nicht mehr. WELT: Du hast in Kassel auch die ersten Bombennächte erlebt, wie war das? Jochen Lengemann: Das war im Jahr 1942. Aus diesem Jahr habe ich zwei Erinnerungen – wie zum ersten Mal der Nikolaus zu uns kam und mir ein Geschenk aus seinem Jutesack zog. Und die erste Bombennacht. Wir saßen im Keller und durch die Kellerfenster konnte man die Blitze der Detonationen sehen. Der Lärm war ohrenbetäubend. In dieser Nacht sind mir die Trommelfelle gerissen, was machte, dass ich erst als Jugendlicher schwimmen lernen durfte. Als Entwarnung gegeben wurde, gingen wir auf die Straße. Ob Häuser zerstört waren, kann ich nicht erinnern, aber die Schienen meiner geliebten Straßenbahn schlängelten sich wie eine glühende Schlange aus dem Gleisbett. Ein Bild, das mich seither verfolgt. Nach dieser Nacht wurde ich für mehrere Wochen nach Bad Soden in das Kindersonnenheim geschickt. Zum ersten Mal weg von meiner Mutter. Dort habe ich süß angemachten Salat hassen gelernt. Ein Diorama im Stadtmuseum in Kassel zeigt die durch den verheerenden Bombenangriff 1943 zerstörte Innenstadt Quelle : picture alliance/dpa/Uwe Zucchi WELT: In der Nacht der totalen Zerstörung warst Du nicht mehr in der Stadt. Du hast das brennende Kassel trotzdem erlebt – wie war das? Jochen Lengemann: Meine Mutter hatte den Rat bekommen, die Kinder zu nehmen und die Stadt zu verlassen. Unsere nordhessische Bauernverwandtschaft wollte uns nicht, also fuhren wir, nur mit dem Tafelsilber meiner Mutter unter der Matratze im Kinderwagen meines Bruders, zu Tante Emilie, der Schwester meines Großvaters mütterlicherseits, nach Freyburg an der Unstrut. Die Tante hatte Platz und räumte für uns ihre Küche und zwei Zimmer im Obergeschoss. Eines Abends, es war schon dunkel, rief meine Mutter: „Jochen, komm’ mal schnell her, der Himmel brennt.“ Aus dem Westfenster unseres Schlafzimmers im ersten Stock sahen wir das knapp 200 Kilometer entfernte Kassel brennen. Nur wussten wir das in dem Moment noch nicht. WELT: Dein Vater hat im Zweiten Weltkrieg etwas getan, was indirekt zur Zerstörung Kassels beigetragen hat. Jochen Lengemann: Mein Vater war fast den gesamten Krieg über in Frankreich auf dem Flugplatz von Rennes. Dort hat er, im Rang eines Majors, der er nie wirklich war, sondern nur aufgrund seines naturwissenschaftlichen Studiums, den Meteorologischen Dienst der Luftwaffe geleitet. Er hat dort den Wetterbericht für die deutschen Bomber erstellt, die den Süden Englands bombardiert haben. Ich habe in den 1990er-Jahren mehrmals Exeter besucht und mit eigenen Augen die Zerstörungen in der Stadt gesehen. Ich bin heilfroh, dass die deutschen Bomber diese wunderbare Kathedrale zwar getroffen, aber nicht zerstört haben. Die Bombardierung deutscher Städte durch die Royal Air Force im Jahr 1942 ist eine direkte Reaktion auf die deutschen Bombenangriffe auf südenglische Städte. So gesehen, hat mein Vater indirekt seinen Anteil an der Zerstörung Kassels.