Erdbeben in Istanbul: Auf den Ernstfall ist Istanbul nicht vorbereitet
Als Erstes wackelte die Deckenlampe, dann klirrten die Fensterscheiben, von draußen Stimmengewirr und einzelne Schreie. Die Wände begannen sichtbar zu schwanken. Als würde man in einem stark ruckelnden Zug sitzen. Aber, zumindest für einen kurzen Moment, in Lebensangst. Am Mittwoch um 12.49 Uhr Ortszeit wurden die Menschen in Istanbul jäh aus ihrem Alltag gerissen: Lange zehn Sekunden bebte die Erde, ein Erdbeben der Stärke 6,2. Anwohnerinnen und Anwohner der ganzen Stadt flüchteten ins Freie – manche nur in Socken und Pyjamas. Andere hatten ihren Notfallrucksack griffbereit oder ihre verschreckten Haustiere bei sich. Die Stimmen waren hektisch, das Mobilfunknetz sofort überlastet. Alle recherchierten zu Ausmaß und Folgen der Erschütterungen, riefen ihre Liebsten an, ob sie wohlauf seien. Istanbul ist stark gefährdet Istanbul liegt in einer der gefährlichsten Erdbebenregionen der Welt. Südlich der 16-Millionen-Metropole treffen die eurasische und anatolische Platte aufeinander. Genau entlang dieser tektonischen Verwerfungslinie lag das Epizentrum des gestrigen Bebens: im Marmarameer vor dem Küstenort Silivri, 60 Kilometer südwestlich von Istanbul. Dass Istanbul ein Starkbeben bevorstehen könnte, davor warnen Forschende bereits seit Jahrzehnten. Denn die Kontinentalplatten bewegen sich stetig aneinander vorbei, verhaken sich entlang der Verwerfung und bauen so über lange Zeit immer größere Spannungen auf. Sie könnten mittlerweile ausreichen, um ein Erdbeben der Stärke 7,4 auszulösen. In der Region Istanbuls ereignet sich im Schnitt alle 250 Jahre ein solches Starkbeben, denn die aufgebaute Spannung muss sich zwangsläufig lösen. Das letzte große Beben war 1766 – es wäre also überfällig. Dafür ist es am Mittwoch noch einmal glimpflich ausgegangen: Lediglich ein unbewohntes Haus im Stadtteil Fatih sei nach Angaben des Umweltministeriums eingestürzt. 378 strukturelle Gebäudeschäden wurden gemeldet. 236 Menschen hätten sich verletzt, berichtete im Laufe des Tages das Gesundheitsministerium – vor allem, weil sie "in Panik aus der Höhe gesprungen sind", schrieb Innenminister Ali Yerlikaya auf der Plattform X. Über Tote ist nichts bekannt. Auch die Befürchtung einiger Anwohner, dass in Küstennähe ein Tsunami ausgelöst werden könnte, bewahrheitete sich nicht. "Das Große" steht noch immer aus Könnte das gestrige Beben schon das erwartete Großbeben gewesen sein? Wohl eher nicht. "Ein Beben der Magnitude 7 wäre etwa 30-mal stärker als eines der Magnitude 6", sagt Marco Bohnhoff, Geophysiker am Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam. Erdbeben dieser Kategorie können Städte zum Einstürzen bringen und Tausende Menschen töten, gerade in dicht besiedelten Regionen. © ZEIT ONLINE Newsletter ZEIT Geldkurs Tschüss, Finanzchaos: In acht Wochen erklären wir Schritt für Schritt, wie Sie bessere Geldroutinen aufbauen und das mit den ETFs endlich angehen. Anschließend erhalten Sie unseren Geld-Newsletter mit den besten Artikeln rund um Finanzen. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . "Es gibt jetzt zwei Szenarien", sagt Bohnhoff. "Entweder die Aktivität klingt langsam wieder ab." Dafür spreche, dass schon erste, schwächere Nachbeben gemessen wurden. Dann würde sich die Lage zumindest vorerst wieder beruhigen. Oder aber das ausstehende Beben wird zusätzlich begünstigt. Denn durch das gestrige Beben könnte es eine Spannungsumlagerung gegeben haben. Das Zentrum des Hauptbebens lag rund 60 Kilometer südwestlich von Istanbul. Das Nachbeben der Stufe 5,3 nur noch 40 Kilometer südlich. "Und das war genau auf dem Bereich, an dem die Erdplatten komplett verhakt sind, wo wir wissen, dass dort sehr viel Energie gespeichert ist." Sollten die Aktivität weiter in Richtung Osten wandern, dann wäre das ein Zeichen dafür, dass es doch noch zu einem Starkbeben kommen könnte. Dass "das Große", wie es in Istanbul nur genannt wird, noch bevorsteht, bleibt also keine Frage des Ob, sondern des Wann. Das Problem ist, dass der Zeitpunkt nicht genau vorhergesagt werden kann, um die Anwohner zu evakuieren. Und dass Istanbul auf den Ernstfall nicht ansatzweise vorbereitet ist.