Das Heidi ist tot, es lebe das Heidi – Im Niederdorf wird das berühmteste Kinderbuch der Welt schamlos zerlegt Das Theater Neumarkt macht sich auf die Suche nach dem Heidi-Mythos. Ein Premierenabend zwischen orgiastischer Milchverehrung, kindlicher Begeisterungsfähigkeit und Heimatgefühlen. Isabel Hemmel Wer oder was macht die Faszination von Heidi aus? Yara Bou Nassar, Challenge Gumbodete, Chady Abu-Nijmeh und Melina Pyschny (v. l.) gehen der Frage nach. Foto: Philip Frowein Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren. Abo abschliessenLogin BotTalk In Kürze : Das Theater Neumarkt inszeniert «Heidi» neu mit vier Darstellenden unterschiedlicher Herkunft. Die multilinguale Inszenierung dekonstruiert den Heidi-Mythos auf der Suche nach seiner Faszination. Die Inszenierung hinterfragt Begriffe wie Sehnsucht, Erinnerung und Heimat. Ein junger Mann dunkler Hautfarbe liegt seitlich auf einer Unterlage aus Tannenzweigen, die Arme sind auf die Hände gestützt, sein Oberkörper ist aufgerichtet, er blickt der Betrachterin frontal entgegen. Am Körper trägt er ein Kleid aus Gardinenstoff, seine hochgesteckten schwarzen Zöpfe imitieren den Kopfschmuck einer Schweizer Tracht. Auf Höhe seiner Brust prangt der Schriftzug «Heidi». Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt. An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen. Cookies zulassen Mehr Infos Mit diesem provokativen Plakat und dem berühmtesten Namen wirbt das Theater Neumarkt derzeit für das gleichnamige Stück, das am Donnerstag im Niederdorf Premiere feierte. Der Mann auf dem Bild ist der Schauspieler Challenge Gumbodete. So viel vorweg: Das Heidi im klassischen Sinne wird er an diesem Abend nicht spielen, genauso wenig wie seine drei Schauspielkolleginnen und -kollegen (Chady Abu-Nijmeh, Yara Bou Nassar und Melina Pyschny). Challenge Gumbodete, Yara Bou Nassar, Chady Abu-Nijmeh und Melina Pyschny (v. l.) stehen bereits zu Beginn des Stücks vor einer schwierigen Aufgabe. Foto: Philip Frowein Ratlos wirken die vier, wie sie da zu Beginn auf der Bühne stehen, in ihren an Urtrachten angelehnten Kostümen. Wie um alles in der Welt sollen sie dem Publikum, das wegen Heidi gekommen ist, erklären, dass Heidi nicht kommen wird? Es folgt ein hinreissendes, mehrsprachiges Herumgeeiere, ein Sich-Foutieren um die Wahrheit, das Sich-Verfangen in Lügen und die schockierende Feststellung, dass Heidi, hätte es gelebt, längst tot ist. Der Mythos aber lebt und damit die Frage: Wie nähert man sich einer Figur, die es nie gegeben hat und die seit mehr als hundert Jahren Menschen auf der ganzen Welt berührt? Wie nähert man sich all dem, was Heidi zugeschrieben wird? Heimweh, Volkstümelei, Cottagecore – wofür steht Heidi? Die Suche nach Antworten beginnt mit einer sich zur orgiastischen Rotlicht-Performance entwickelnden Ode an die Milch. Dieses Intermezzo sorgt zwar für viel Gelächter, wird aber beruhigenderweise nicht weiterverfolgt. Fortan geht man das Thema gemässigter an. Die Bühnenbildnerin Han Le Han hat für «Heidi» eine Art White Cube gebaut, in dem Holzstuhl, Kreuz, Tannenzweige, ein Stück Wiese, ein Hodler-Bild und ein leuchtend rotes Dreieckstuch nicht mehr sind als Verweise auf eine Geschichte, die es sich durchaus lohnt, in ihre Einzelteile zu zerlegen. Chady Abu-Nijmeh (l.) als Heidi zeigt Challenge Gumbodete (r.) als Peter seine reine, kindliche Liebe. Foto: Philip Frowein Die Regisseurin Lena Reissner beackert während eineinviertel Stunden zusammen mit dem Ensemble lustvoll Begriffe wie Sehnsucht, das Motiv des Waisenkindes, Heimweh, Volkstümelei, Cottagecore und Heimat. Das ist viel Stoff für 75 Minuten – etwas zu viel. Es führt dazu, dass beim Versuch, allen Ansätzen zu folgen, sich schon bald eine leichte Überforderung einstellt. Was den Theaterabend trotzdem trägt, sind die eigens fürs Stück komponierten Songs, bildstarke Szenen und das Spiel der vier Schauspielerinnen und Schauspieler, allen voran Chady Abu-Nijmeh. Heidi ist hier jede und keiner Auf der Suche nach dieser faszinierenden, vorurteilsfreien Freude, die der Heidi-Figur eigen ist, schlüpft er in deren Rolle. Er hüpft mit kindlicher Leichtigkeit über die Bühne, wirft sich an Peters Brust, erklärt ihm unschuldig die Liebe und staunt mit aufgerissenen Augen über das imaginierte Alpenglühen – so, dass es einen ernsthaft berührt. Immer wieder tauschen die vier Darstellerinnen und Darsteller die Rollen oder nehmen Themen auf, ohne eindeutig erkennbar in Figuren aus der «Heidi»-Geschichte zu schlüpfen. Heidi ist hier jede und keiner. Yara Bou Nassar mit überdimensioniertem Ziegenkopf verkörpert die mystische, Heil bringende Natur, die auch in Heidi steckt. Foto: Philip Frowein Die Sequenzen gleiten nahtlos ineinander und hangeln sich nur lose an der berühmten Vorlage entlang. Mal verfallen die auf der Bühne in die Posen einfältiger Traditionalisten, dann wieder machen sie sich mittels Knirschen von Tannenzweigen auf die Suche nach den Geräuschen der Sehnsucht. Bildgewaltig wird es, als Yara Bou Nassar mit einem überdimensionierten, täuschend echten Ziegenkopf auf den Schultern und begleitet von Kunstnebel Clara begegnet: ein schönes Bild für diese überhöhte, mystische und Heil bringende Bergwelt, für die Heidi eben auch steht. Schon wegen des englisch-französisch-deutschen Sprachengewirrs (mit Übertiteln) ist die Frage nach der Definition von Heimat eine, die auf der Hand liegt. Die vier auf der Bühne finden Heimat am Ende in ihren Kindheitserinnerungen – beim Gugelhupf der Grossmutter, dessen Rezept schon mehrere Generationen überlebt hat, oder beim Gedanken an den Schal der Mutter, den man früher eng am Körper trug, wenn sie weg war. Die Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Suche nach der Heimat im gemeinsamen Sich-Erinnern. Foto: Philip Frowein Was vom Abend nachhallt, ist ein behutsamer Blick auf die in uns allen schlummernde kindliche Sehnsucht. «Heidi» ist aber auch der liebevolle Versuch, den Begriff Heimat von den politisch instrumentalisierten Zuschreibungen zu befreien, mit denen die Welt gerade wieder mehr denn je konfrontiert ist. Newsletter Zürich heute Erhalten Sie ausgewählte Neuigkeiten und Hintergründe aus Stadt und Region. Weitere Newsletter Einloggen Isabel Hemmel ist stv. Leiterin des Ressorts Stadtleben. Sie schreibt über die Kultur und das Leben in Zürich. Mehr Infos Fehler gefunden?Jetzt melden.