Der Fall ist, in Kürze, dieser: Der angebliche Kunstcharakter eines Pornovideos sorgt dafür, dass die Verlagsverträge über Gedichtbände jenes Mannes, der in dem Video auftritt, weiter Bestand haben, obwohl der Verlag sich von ihm trennen wollte. Wie das? Der Mann heißt Till Lindemann und ist angeblich Sänger und Dichter. Seit Jahrzehnten provoziert er mit seiner Band Rammstein in Ton, Wort und Bild: mit Riefenstahl-Ästhetik, NS-Anspielungen, Sexsklaven-Songs und Kannibalen-Kantaten. Die in Buchform ver­öffentlichten Texte spielen ebenfalls mit altbekannten Mustern zwischen Märchen, Ästhetik des Hässlichen und, wenn man sehr hoch greifen will, Expressionismus. Eine Formulierung wie „an faule Lendenfrucht gefesselt“ beschreibt den Charakter dieser Texte aber vielleicht schon erschöpfend. Lyrische Beschreibung einer Vergewaltigung Einer mit dem Titel „Wenn Du schläfst“ lyrisiert eine Vergewaltigung unter Einsatz des Betäubungsmittels Rohypnol. Der Verlag, der das publizierte, heißt Kiepenheuer & Witsch, und 2020 verteidigte sein damaliger Leiter Helge Malchow den Autor noch gegen „moralische Empörung“, die auf einer Verwechslung zwischen „lyrischem Ich“ und dem Autor Lindemann beruhe. 2023, als die Band Rammstein beschuldigt wurde, Frauen per „Casting-System“ dem Sänger Lindemann für Sex zugeführt zu haben, womöglich unter Einsatz von Betäubungsmitteln, drehte sich der Wind, und der Verlag trennte sich von ihm. Die Verlegerin Kerstin Gleba begründete dies in einer Erklärung damals vor allem mit einem Pornovideo von 2020, in dem Lindemann Gewalt-Sex mit mehreren Frauen hat und ein Exemplar seines KiWi-Buches „In stillen Nächten“ mit einem Dildo durchbohrt. Lindemann überschreite in dem Video „für uns unverrückbare Grenzen im Umgang mit Frauen“. Fragwürdig war, dass der Verlag erst damals Kenntnis von den Inhalten des Videos erlangt haben wollte. Gewaltverherrlichung spielt bei der Frage nach Kunst keine Rolle? Lindemann klagte gegen die Kündigung. Das Landgericht Köln hat nun der Klage stattgegeben und festgestellt, es habe kein Kündigungsgrund bestanden, die zwischen Lindemann und KiWi geschlossenen Verträge bestehen somit ungekündigt fort. Was das in Bezug auf die nicht lieferbaren drei Buchbände Lindemanns heißt, wird noch zu klären sein. Das Urteil hält zum einen fest, dass die Empörung bei KiWi zu spät kam: Lindemanns „künstlerische Arbeitsweise“ sei lange zuvor bekannt gewesen. Dem besagten Video wird Kunstcharakter bescheinigt. Die eine Pointe des Urteils lautet: Wenn der KiWi-Verlag Lindemanns Texte seinerzeit veröffentlichenswert fand, muss er auch weiter dazu stehen. Das kann man fast belustigend finden, vielleicht auch grausam. Die andere Pointe ist noch grausamer. In Juristensprache: „Auch spielt jedenfalls der Umstand, dass die Inhalte (des Porno-Videos, d. Red.) abstoßend sind und Gewalt gegen Frauen darstellen und womöglich verherrlichen, bei der Einordnung als Kunst oder Nicht-Kunst keine Rolle.“ Kunstfreiheit ist manchmal schwer auszuhalten, das zeigt sich insbesondere im theatralischen Pop-Business.