Getötete Familie im Westerwald: „Für Weitefeld ist das die Hölle“

Es gab Momente, da hatten die Menschen in Weitefeld in den vergangenen Tagen ein gutes Gefühl. Da dachten sie, nun sei Alexander M. endlich gefasst: der Mann, der in der Nacht auf den 6. April eine Familie in ihrem Wohnhaus mitten im Ort mit Schüssen und Messerstichen getötet haben soll und dann floh. Einmal zum Beispiel verharrte der Polizeihubschrauber, der hier seit Tagen fliegt, 20 Minuten lang an einer Stelle über dem Dorf. Ein anderes Mal hieß es, die Polizei habe im Wald hinter dem Sportplatz im Nachbarort eine Schlafstätte von M. entdeckt. Ob das wirklich so war, dazu macht die Polizei keine offiziellen Angaben. Aber noch ist M. auf der Flucht, vermutlich bewaffnet und gefährlich. Noch besteht laut Polizei die Möglichkeit, dass er sich irgendwo in der Gegend im Westerwald versteckt. Noch gibt es ein „früher“, als Hubschrauber nur deshalb über Weitefeld flogen, weil mal wieder jemand aus dem Seniorenheim abgehauen war. Noch sagen die Anwohner Sätze wie: „Es ist mir so was von egal, wie sie ihn finden, tot, erhängt oder erschossen. Aber sie sollen ihn endlich finden.“ Weitefeld hat gut 2200 Einwohner, einen Norma, eine Tankstelle und zwei Dönerläden. Die Häuser rund um das Wohnhaus der getöteten Familie haben gepflegte Gärten ohne Zäune. In den Fenstern hängen Spitzengardinen. Man grüßt sich, man kennt sich beim Namen, man hält auf der Straße gerne mal ein Pläuschchen. Wobei auch das „früher“ so war, denn seit dem 6. April hält sich niemand viel länger als unbedingt nötig auf der Straße auf – Frau Schmidt zum Beispiel, sie wohnt nur ein paar Häuser weiter und will lieber nicht mit Vornamen erwähnt werden. Am Montag ist abermals die Spurensicherung im Haus der getöteten Familie in Weitefeld im Einsatz. Michael Braunschädel An diesem Montagmittag ist sie zum ersten Mal seit acht Tagen wieder mit ihren Hunden Gassi gegangen. „Dat war jetzt Dauerlauf“, sagt sie. Und: „Für Weitefeld ist das die Hölle, vor allem, wenn es dunkel wird.“ Denn wer weiß schon, ob M. zurückkommt? Ob der sich hier nachts noch jemand anderen aussucht? Viele schließen sich hier jetzt selbst tagsüber ein. Eigentlich verriegeln die Menschen in Weitefeld ihre Haustüren nicht, damit die Feuerwehr im Notfall immer reinkommen kann. Aber auch, weil es dafür nie einen Grund gab, früher. Vieles an der Tat in jener Nacht ist rätselhaft. Um 3.45 Uhr am vorvergangenen Sonntag ging ein Notruf aus dem Haus der Familie bei der Polizei ein, er stammte von Nadine S. Als die Polizei eintraf, war S. schon tot. In einem Raum des Hauses fanden die Beamten insgesamt drei Leichen: Nadine S., 44 Jahre, und ihren Mann Kai, 47 Jahre, beide mit Schuss-, Messer- und Stichverletzungen, laut vorläufiger Obduktion verbluteten sie. Und den 16 Jahre alten Sohn Kilian, ein Schuss hatte ihn tödlich verletzt. Nicht einmal 36 Stunden später gab die Polizei bekannt, dass die forensischen Spuren am Tatort auf einen dringend Verdächtigen hinwiesen: den 61 Jahre alten Alexander M., wohnhaft im Nachbarort Elkenroth, drei Kilometer entfernt. Die Polizisten baten die Anwohner um Mithilfe, klingelten an den Türen, veröffentlichten Fahndungsfotos von M., durchkämmten den Wald. Mehr als 800 Hinweise gingen ein, eine hundertköpfige Sonderkommission arbeitet sie ab. Doch M. hat die Polizei bislang nicht gefunden. Im Ort wundert das die Menschen nicht. „Um Weitefeld ist nur Wald“, sagt ein Mann mit Piercings, der aufgrund seines Berufs fast jedes Haus in der Gegend kennt. Es gebe so viele Schleichwege, es bringe nichts, wenn die Polizei die Zufahrtsstraßen abriegele, wie kurz nach der Tat. Nicht jeder im Ort sei wahnsinnig ängstlich. Aber manche hätten sich jetzt ein Messer in ihren Roller gelegt. Solange die Spurensicherung im Haus arbeitet, sperren die Polizisten die Straßenabschnitte, die zum Tatort führen. Michael Braunschädel Das Haus der Familie S. sieht aus, als wäre es seit Jahren verlassen, nicht seit Tagen. Der Garten ist verwildert, ein kleines Gewächshaus ohne Dach steht im hohen Gras, im Kiesvorgarten wächst Unkraut. Viele kannten das Gesicht von Nadine S., weil sie vor Jahren eine Zeit lang in der Metzgerei im Ort gearbeitet hat. Auch gegrüßt habe die Familie immer freundlich. Aber draußen seien sie nie gewesen, sagen die Nachbarinnen direkt neben dem Haus: „Die Rollos waren immer zu.“ Nadine S. sei von der Arbeit gekommen und im Haus verschwunden. Auf der Treppe zur Haustür der Familie stehen Dutzende Blumen und Kerzen, aber dazwischen finden sich keine Zettel oder Karten mit persönlichen Worten. „Der war ein Eigenbrötler“ Karl-Heinz Keßler ist seit zwölf Jahren Bürgermeister von Weitefeld. Auch er sagt: Die Gesichter der Familie kannte man, aber sie lebten eher zurückgezogen. Die Tat sei kaum in Worte zu fassen. Mehr als 40 Jahre lang hat Keßler für die Feuerwehr gearbeitet, Unfälle und Unglücke erlebt, auch nach der Flut im Ahrtal im Sommer 2021 war er im Einsatz: „Aber so was hier sprengt den Rahmen.“ Die Angst steigere sich „mit jedem Tag, den der hier frei rumläuft“. Der Polizei will er deshalb aber keinen Vorwurf machen, sie mache einen „super Job“. Trauernde haben Blumen und Kerzen am Haus der getöteten Familie abgelegt. Michael Braunschädel Auch in Elkenroth, wo der tatverdächtige M. gewohnt hat, sind die Menschen vorsichtig geworden – und müde davon, vorsichtig zu sein. Im Bäcker ist der zweite Ausgang verschlossen, „damit wir besser sehen können, wer rein- und rauskommt“, sagt eine Verkäuferin. Die andere sagt, sie sei es leid. Es wäre gut, wenn die ganze Sache jetzt endlich mal ein Ende hätte. Alexander M. hat in Elkenroth seit Jahren in einem Haus am Ortsrand mit Blick auf die Felder gewohnt. Drei Polizisten bewachen es an diesem Tag. In ihrem Kofferraum warten zwei Hunde, die jeden anbellen, der am Auto vorbeiläuft. Der Garten des Hauses ist zugemüllt, in der Einfahrt liegen Sofateile, auf dem Garagendach stehen Fahrräder. Die Polizei bewacht das Haus des Tatverdächtigen in Elkenroth. Michael Braunschädel M.s Nachbarn haben keine große Lust mehr, mit Reportern zu reden. Niemand will ihn gekannt haben. „Der war ein Eigenbrötler“, sagt einer, der zwei Häuser weiter wohnt. Er habe schon gegrüßt, aber eher für sich gelebt. Ein Zweiter sagt, vom Sehen kannte man sich, klar. Aber er habe sich immer lieber von ihm ferngehalten: „Der war ein Verbrecher.“ Tatsächlich ist Alexander M., der in den Neunzigern aus Kasachstan nach Deutschland gekommen sein soll, vorbestraft. Im Jahr 2011 verurteilte ihn das Landgericht Koblenz zu einer Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten, weil er seine damalige Ehefrau mit einem Küchenmesser attackiert hatte. Im Jahr 2018 erhielt er eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten, weil er sie verbal bedroht hatte. Im Garten des Wohnhauses von M. liegt Gerümpel. Michael Braunschädel Auch in Weitefeld kannte man das Gesicht von M. Eine Nachbarin der Familie S. sagt, auf Volksfesten habe er häufig „komisch“ getanzt. Videos von seinen Tänzen lud M. auch in den sozialen Medien hoch. In einem tänzelt er etwa zu einem Lied der ukrainischen Band Nensi aus den Neunzigern, dazu schreibt er auf Russisch mit Lachsmiley: „Lebe dein eigenes Leben und nicht das eines anderen.“ Rätselhaft bleibt, ob oder wie M. und die Familie S. sich kannten. Am Freitag hatte die Polizei erklärt, die „Hintergründe der Tat oder ein etwaiges Motiv“ seien unklar. Am Dienstag teilte die Polizei auf Anfrage mit, zu Ermittlungsdetails mache man grundsätzlich keine Angaben. An diesem Mittwoch soll der Fall Thema werden in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“.