Zugvögel, die nachts über glitzernde Städte fliegen, verlieren die Orientierung. Nachts beleuchtete Wiesen werden viel weniger bestäubt als Wiesen in Dunkelheit. Aktuell werden etwa 20 Prozent des globalen Energieverbrauchs darauf verwendet, die Nacht zu erhellen. „Es ist zu hell“, so die These von Lisa-Viktoria Niederbergers „Dunkelheit“. Mit der „künstlichen Verdrängung der Nacht“ hätten wir „längst einen Kipppunkt überschritten“, lange schon beeinträchtige die künstliche Erhellung des Erdballs durch elektrisches Licht, seit den Neunzigern vor allem durch LEDs, erheblich, wie wir schlafen, leben, arbeiten. Romantik und „spekulative Fabulation“ Um das zu begründen, entgrenzt Niederberger ihren Begriff der Dunkelheit erst einmal, bis er nicht nur (Nicht-)Beleuchtung im öffentlichen Raum und den (verschwindenden) „Lebensraum Nacht“ von Tieren und Pflanzen einschließt, sondern auch den menschlichen Schlaf und „das ultimative Dunkel“, so nennt Niederberger den Tod – das sind die vier Kapitel ihres Buches. Aber Dunkelheit ist für sie noch mehr, zum Beispiel auch „alles Unbewusste“, ein „innerer Zustand“, etwas, das „ich in mir spürte“, „auch eine Metapher für das Unbekannte, das Verborgene“, ein „Hort der Ideen“ und ein „Angstraum“, der „Möglichkeitsraum“ werden sollte. Die Dunkelheit von „Dunkelheit“ ist also: was die Autorin damit assoziiert. Gleichzeitig werden durch Niederbergers Entgrenzung des Begriffs bis ins Metaphorische die Schleusentore geöffnet. „Kleine und unvollständige Kulturgeschichte“ nennt sie das selbst in zwei Zwischenüberschriften. Trotzdem, und obwohl Vollständigkeit und Objektivität in der Auswahl der Quellen, klar, illusorisch sind, fragt man sich doch, welche nicht zufällige Auswahlheuristik hier an europäische Kunst- und Kulturgeschichte angelegt wurde, die dazu führte, dass etwa für das 19. Jahrhundert die Romantik und ihre Nacht-Ästhetik unerwähnt bleiben. Zumal Niederberger dieser, siehe Novalis und Eichendorff, mit ihrer eigenen Haltung – ihrem „Plädoyer“ für und ihrem „Liebesbrief an die Dunkelheit“, an ihre „samtene Anmut“ und „Umarmung“ und an ihren „magischen“ „Zauber“ – selbst sehr nah kommt. Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. F.A.S. jetzt lesen Überhaupt: ihre eigene Haltung. „Dunkelheit“ ist nicht nur ein Buch über Dunkelheit. Es ist auch ein Buch über Lisa-Viktoria Niederberger, die sich darin in Ausrichtung zu ihrem Gegenstand als Autorin und als Mensch sehr stark exponiert, und das mit Methode, nimmt man sie beim Wort. Auf ihrer Website steht, sie „bevorzuge eine lebensnahe Schreibweise, oft in Form der Autofiktion“; in „Dunkelheit“ lässt sie jedes Kapitel in ein paar Seiten Utopie münden, in „spekulative Fabulation“. Die US-amerikanische Denkerin Donna Haraway ist ihre Stichwortgeberin für diese, so Niederberger, „erzählerische Methode, die alternative Zukünfte und mögliche Welten imaginiert, (...) neue Formen des Zusammenlebens zwischen Menschen, Tieren und Maschinen zu erkunden“. Ein anderes Theoriewort, das „Dunkelheit“ der Biologin, Kultur- und Wissenschaftstheoretikerin Haraway entlehnt, ist „Symbiose“. Auch Niederberger schreibt offenkundig für ein Leben in Win-win-Koexistenzen. „Sei zuhause, bevor es dunkel ist“ „Dunkelheit“ ist da gut, wo Niederbergers – durchweg eben sehr präsentes – Ich hilft, ihren Gegenstand nicht nur zu veranschaulichen, sondern dessen reale, nicht nur intellektuell zu fassenden Schichten freizulegen. Wo sie zum Beispiel einen Bogen schlägt (leider ohne Primärquellen) von Anstandsliteratur des 19. Jahrhunderts, die den Frauen riet, nie allein zu promenieren, erst recht nicht nach Einbruch der Dunkelheit, überhaupt: den (nächtlichen) öffentlichen Raum zu meiden, und das zur Frage der Sittlichkeit und so zur eigenen Verantwortung erklärte – hin zu ihren eigenen Erinnerungen „meine Freundinnen und ich beim Fortgehen“, den polizeilichen Ratschlägen „dunkle Ecken meiden“ und „keine Kopfhörer tragen“, hin zu „Frauentaxis“ und „Heimwegtelefonen“ und der „Selbstverständlichkeit, mit der sich eine Freundin (...) den Pfefferspray an den Gürtel klemmte, bevor sie den Heimweg entlang der Donau-Au antrat. Es gehörte dazu, so wie (...) die Bussis auf unsere Wangen zum Abschied“. Hin zur „Antizipation von Belästigung“ und „Selbstregulierung“ und „Selbstausgrenzung“, die „uns von klein auf eingeimpft“ werden, „Sei zuhause, bevor es dunkel ist“. Lisa-Viktoria Niederberger: „Dunkelheit. Ein Plädoyer“. Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2025. 248 Seiten, 22,90 Euro. Haymon Verlag Auch gut: Ein anderes Mal, wenn Niederbergers intellektuelles Ich bewusst versucht, allein im Dunkeln zu sein – und es kaum aushalten kann („hypervigilant sitze ich am Strand und fürchte mich“). Oder wenn sie zu „Nachtarbeit im Niedriglohnsektor“ schlussfolgert, „dass wir mit den allermeisten Lieferketten (...) auch die Menschen entlang dieser Lieferketten zerstören“ – aber das nicht vom Schreibtisch aus tut, sondern während sie einen Lkw-Fahrer auf dessen brutaler Tour von Salzburg nach Wales begleitet („die Trägheit in den Bewegungen aller, den rasselnden Husten des Gabelstapelfahrers“, „während mir vor Erschöpfung regelmäßig schwarz vor Augen wurde“). Das Persönliche ist mal hilfreich, mal lenkt es ab Viel weniger gut ist „Dunkelheit“, wo Niederbergers Person nicht nur deplatziert wirkt, sondern von ihrem Gegenstand ablenkt, etwa wenn man im Fußnotenbereich erfährt „Info-Dumping ist eine meiner Love Languages“ und, im Kapitel zu Schlaf, das mit der eigenen Schlafstörung beginnt, „Im Rahmen von Psychotherapie und Körperarbeit sprechen wir viel über mein Sicherheitsempfinden, finden heraus, dass ich das nie hatte“. Oder wo Niederbergers vermutlich um Zugänglichkeit bemühter Stil Sätze hervorbringt wie „Ich denke, die Lösung ist Respekt“, „Dazu braucht es vor allem Empathie“ und „der Tod eines nahestehenden Menschen ist eine Zäsur“.