Hannover. Dinge in einem größeren Kontext zu sehen, hilft oft, um sie besser zu verstehen. Das gilt auch, wenn man dem Erfolgsgeheimnis der einflussreichsten christlichen Influencerinnen und Influencer auf die Spur kommen will. Denn die großen Reichweiten, die etwa die Social-Media-Kanäle von Jana Hochhalter (bekannt als Jana Highholder) und Jasmin Neubauer erzielen, verwundern auf den ersten Blick: Wie gelingt es den jungen Frauen mit religiösen Inhalten im deutschsprachigen Raum ein so großes Publikum zu erreichen – während die Mitgliedszahlen bei den christlichen Kirchen in unseren Breiten doch alljährlich massiv zurückgehen? Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Das Schlüsselwort für das Verständnis hier ist Evangelikalismus. Dabei handelt es sich um eine weltweit betrachtet rasant wachsende, erzkonservative Strömung im Christentum. Auch den Großteil der im deutschsprachigen Internet besonders erfolgreichen „Christfluencer“ kann man dieser Bewegung zurechnen. Evangelikale Christinnen und Christen predigen ein bibeltreues Weltbild: Entsprechend ziehen sie gegen Homosexualität, vorehelichen Sex, Schwangerschaftsabbrüche und Pornografie zu Felde. Vertreterinnen und Vertreter evangelikaler Kirchen lehnen in der Regel zudem die Evolutionslehre ab – weil die Bibel nun einmal eine andere Schöpfungsgeschichte erzählt. Rege Missionstätigkeit mit hochwertigen Videos Derzeit leben rund 2,6 Milliarden Christinnen und Christen auf unserem Planeten, und täglich werden sie mehr. Experten schätzen, dass ihre Zahl bis zum Jahr 2050 auf mehr als 3 Milliarden anwachsen wird. Das prozentuale Wachstum der gläubigen Christen wird damit sogar leicht über dem erwarteten Anstieg der Weltbevölkerung in Gänze liegen. Auf dem Vormarsch – insbesondere im Globalen Süden – sind dabei Freikirchen, die evangelikale Lehren vertreten. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Das kommt nicht von ungefähr: Andere Menschen zum Glauben zu bekehren – darauf legen evangelikale Prediger seit jeher ein großes Augenmerk. Und entsprechend rege ist die Missionstätigkeit aus diesem Bereich des christlichen Spektrums, wozu auch eine geradezu immense Präsenz in den sozialen Medien gehört. Die Gemeinden stecken viel Geld in Social-Media-Kanäle, die Influencerinnen und Influencer bilden sich regelmäßig fort und haben sich in wirkmächtigen Netzwerken zusammengeschlossen. Für ihre Produktionen setzen sie teure Ausrüstung ein, und die Videos haben in der Regel eine hohe handwerkliche Qualität. All das hat Tradition: Die reichweitenstarken Profile auf Facebook und Instagram sowie die viel aufgerufenen Videos auf Youtube und Tiktok dieser Tage knüpfen im Grunde nahtlos an die Sendungen an, die freikirchliche Prediger in früheren Jahrzehnten bereits im Radio und Fernsehen hatten. Mission über Massenmedien gehört fest zum Wesenskern des Evangelikalismus. Konservativ, aber keineswegs einheitlich Wichtig bei all dem: Es gibt nicht die eine evangelikale Kirche und damit letzten Endes auch nicht nur eine evangelikale Glaubensrichtung – auch wenn evangelikale Christen genau das in gewisser Hinsicht postulieren. Denn für sie ist schließlich die Bibel in ihrem Wortlaut die absolute Richtschnur – und die benötigt ganz grundsätzlich keine Auslegung, so finden sie. Das Wort Gottes gelte unmittelbar. „Organisiert“ ist das evangelikale Lager in Wahrheit jedoch in vielschichtigen Strukturen, mitnichten handelt es sich dabei aber um einen monolithischen Block. Wichtig dabei sind einzelne, freikirchliche Gemeinden und vermeintlich losere Netzwerke: Die Bandbreite der Gruppierungen, die hierzulande eine signifikante Rolle in der Szene spielen, reicht von der Deutschen Evangelischen Allianz, die Anhänger in den Reihen der Freikirchen und Landeskirchen gleichermaßen hat, bis hin zu „ProChrist“ und der sogenannten Willow-Creek-Bewegung. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Die Vielfalt freikirchlicher Bewegungen wird bereits beim Blick in die Geschichte deutlich – in der Freikirchen teils sogar die progressiveren Glaubensgemeinschaften waren als die Staatskirchen (in Abgrenzung zu diesen erklärt sich auch der Name „Freikirchen“). Das war etwa der Fall, als in den USA vor Beginn des Bürgerkrieges die Kritik an der Sklavenhaltung immer lauter wurde. Einige freikirchliche Christen wurden dabei zu Vorkämpfern im Kampf gegen den Rassenhass und für die Gleichheit aller Menschen. Sie empfanden die Sklaverei als eine Beleidigung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. So sahen das aber beileibe nicht alle: Denn andere Freikirchler glaubten, ihren Sklavenbesitz mit der Bibel rechtfertigen zu können. Die Vielschichtigkeit und Wirkmächtigkeit freikirchlicher Lehren im Laufe der Jahrhunderte wird auch daran deutlich, dass sich nicht nur neue Glaubenslehren wie die der Methodisten, Mennoniten und Baptisten herausbildeten. Zugleich bildeten sich auch Gruppierungen wie der Christliche Verein Junger Menschen (CVJM) oder die Heilsarmee, die ihren christlichen Glauben (freikirchlicher Prägung) auch direkt in praktische Tat umsetzen wollen. Viele dieser Entwicklungen passierten in englischsprachigen Ländern, und doch wurzelt der heutige Evangelikalismus auch im deutschen Pietismus. Evangelikale machten Gottesdienste zu Events Von „evangelikal“ im heutigen Gebrauch spricht man in der Regel erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die schon angesprochenen Radiosender begründet wurden. Mit den hier gesendeten Programmen fanden die evangelikale Lehren auch mittels eigens komponierter Songs zu den Menschen. Die Musik war zugleich wichtig für die neuartigen Großveranstaltungen, zu denen die Prediger ihre Anhängerinnen und Anhänger zusammenriefen. Diese Gottesdienste wurden mehr und mehr zu Events. Solche Formate brachen mit der traditionellen evangelischen Frömmigkeit: Für diejenigen, die sich für die neuen Formen begeistern konnten, waren die Gottesdienste der etablierten protestantischen Kirchen vielfach zu nüchtern und dröge. Sie verbanden sie trotz ihrer Ausschmückung aus dem reichen Schatz reformatorischer Kirchenmusik und feierlicher Liturgien als zu formelhaft und steif. Damit verband sich auch das Image, immer nur harte Tugenden wie Ordnung und Fleiß in den Fokus zu rücken. Die freikirchlichen Worships setzen stattdessen auf eine emotionale Ansprache der Gottesdienstbesucherinnen und Besucher, die in den evangelischen Kirchen zuvor seit den protestantischen Bilderstürmen des 16. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hatte. Mit den aufkommenden pfingstkirchlichen Sichtweisen konnten die Gläubigen das Wirken des Heiligen Geistes ganz direkt im eigenen Leben spüren, was für Emotionen bis hin zur Ekstase sorgte. Eine persönliche Bekehrungserfahrung avancierte rasch zum zentralen Element allen evangelikalen Denkens und Handelns. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Übergänge zwischen evangelikal und evangelisch fließend Kennzeichnend für den Evangelikalismus ist zudem eine Höchstschätzung der Bibel. Sie wird wortwörtlich verstanden und nicht historisch-kritisch ausgelegt. Als weitere Charakteristika stechen die starke Konzentration auf Jesus Christus als Erlöser und der eingangs bereits erwähnte missionarische Weltveränderungseifer hervor. Wichtig: Eine Charakterisierung beispielsweise anhand von exorzistischen Praktiken, mit denen Dämonen ausgetrieben werden sollen, ließe sich nur schwerlich vornehmen. Entsprechende Ausprägungen des Evangelikalismus können vorkommen, werden der Vielfalt der Bewegung jedoch nicht gerecht. Verhältnismäßig leicht erscheint indes eine Abgrenzung zur liberalen Theologie, wie sie in den deutschen Landeskirchen heutzutage vorherrscht: Eines der Grundprinzipien der Reformation wird mit dem lateinischen Satz „ecclesia semper reformanda“ beschrieben. Er meint eine Kirche, die sich immer erneuern muss, um Antworten auf die Fragen der Gegenwart und die Bedürfnisse ihrer Gläubigen zu finden. Die Evangelikalen haben diese reformatorische Grundidee in gewisser Weise in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht die Kirche und damit ihre Lehre und der Glaube müssen sich wandeln. Dieser bleibe mit seiner göttlichen Offenbarung in der Bibel immer gleich, sagen sie. Vielmehr müssten sich die Gläubigen „ändern“ – indem sie sich bewusst für Gott entscheiden und wieder stärker an Gottes Gesetze halten. Uneins über Sex, Abtreibung und Schwule Freikirchliche Influencerinnen werben teils für äußerst konservative Ansichten. Die liberalen evangelischen Landeskirchen halten auf ihren Social-Media-Kanälen dagegen – und predigen so ziemlich das Gegenteil. Wir haben mit je einer einflussreichen „Christfluencerin“ aus beiden Lagern gesprochen. Abonnieren In dieser Hinsicht wurde in der Wissenschaft mitunter bereits diskutiert, ob evangelikale Frömmigkeit überhaupt noch als Unterspielart des Protestantismus verstanden werden sollte. Oder ob sie nicht besser als eine vierte, ganz eigene Gestalt des Christentums neben der protestantischen, der katholischen und der orthodoxen Konfession beschrieben wären? Wie beschrieben, gibt es jedoch keine „evangelikale Kirche“. Die hierzulande schätzungsweise etwa 1,5 Millionen evangelikal eingestellten Christinnen und Christen sind teils Mitglied in den unterschiedlichsten Freikirchen, teils aber auch in den Landeskirchen. „Evangelikal“ kommt damit einer Sammelbezeichnung für die konservativen Gläubigen in den verschiedenen protestantischen Kirchen gleich. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Ideologisch verbunden sind die Evangelikalen durch ein professionelles Mediennetzwerk, zu dem unter anderem der Nachrichtendienst „Idea“, der Fernsehsender „Bibel TV“ und das Magazin „pro“ gehören. Und längst auch die reichweitenstärksten christlichen Influencerinnen und Influencer wie Jana Highholder und Jasmin Neubauer. „Da mein Glaube das Fundament meines Lebens ist und kein Aspekt, den ich ein- oder ausklammern kann, ist es für mich von Anfang an normal gewesen, meinen Glauben auch auf Social Media zu teilen“, sagt Highholder im Gespräch mit dem RND über ihre eigenen Inhalte im Internet.