Barcelona nach dem Wehrdienst. Eine wirklich wahre Ostergeschichte.

Eine wirklich wahre Ostergeschichte Barcelona nach dem Wehrdienst Von PIT KNORR (Text und Fotos) 18. April 2025 · Pit Knorr fuhr nach Barcelona, um sich von der Bundeswehr zu erholen. Doch dann holten die Erinnerungen unseren Autor ein. Eine Ostergeschichte. Vor genau einem Jahr – im Frühjahr 1959 also – hatte die unerfreuliche Zeit begonnen, die ich nun hinter mich bringen, vergessen und nie wieder erleben will. Zwölf Monate Wehrdienst. Der Verein namens Bundeswehr existiert erst seit zwei Jahren. Eines davon war mein Jahr, und es ist vor neun Tagen zu Ende gegangen. Meine Freunde und ich wollten sofort in den Süden reisen, in die Freiheit, in die Sonne, an den Strand, zu den schönen Frauen, wie wir sie von Bildern oder aus Liedern kannten, Marina, Marina, Marina! Nach Spanien also. Eine Kette unseliger Irrtümer hatte uns auf diese Idee gebracht. Aber nun ist es zu spät. Die Marina aus dem Schlager kommt nicht aus Spanien, sondern aus Italien, unter General Franco herrscht statt Freiheit Faschismus, von Sonne kaum die Rede, es ist noch kühl an Ostern, die Strände sind leer, die verklemmten Fünfzigerjahre nehmen kein Ende, die Mädchen in Spanien sind zum Davonlaufen katholisch und noch prüder als die in Deutschland, und ein Jahr beim Militär vergisst man nicht in ein paar Tagen in Barcelona. Später würde ich das hoffentlich begreifen. Aber: Auf dem kleinen lila Einreise-Stempel in meinem Reisepass steht nun mal LA JONQUERA 9.4.1960 ENTRADA. Und nun sitze ich auf einer Bank an der Plaça Catalunya und frage mich, wie es weitergehen soll. Eines immerhin ist klar: Es ist angenehmer, bei strahlendem Sonnenschein mit einer schönen Frau durch Barcelona zu flanieren, als bei strömendem Regen mit einer Truppe verdreckter Soldaten durch Idar-Oberstein zu latschen. Nur, wie stell ich’s an, und warum sind meine Freunde noch nicht da? Soll ich mir Sorgen machen? Wo bleiben mein Koffer, die Spanien-Karte, der Barcelona-Führer, der Stadtplan, das Spanisch-Lexikon und der Whisky? Meine Kommiss-Kameraden Lui Wüstenfuchs und der Alte Fritz sind in einem Lloyd 400 hierher unterwegs. Der Alte Fritz heißt so, weil er ein halbes Jahr älter ist als Lui und ich. Und Lui heißt mit Nachnamen Wüstental. Der Fuchs ist ein Geschenk von uns. Für uns alle drei war in dem als Leukoplastbomber verspotteten Kleinfahrzeug nicht genug Platz mit einem Zelt und all dem Gepäck. Also bin ich getrampt. Das kann ich. Und Alleinsein eigentlich auch. Schließlich habe ich es in den großen Schulferien schon per Anhalter solo über Lappland nach Helsinki und zurück geschafft. Und habe ich nicht als beinhart Unfreiwilliger ganz andere Situationen überstanden? Wir werden sehen. Der Unteroffizier Ratzke war ein kleiner, bösartiger Untergebenenschinder. Er hatte in seiner Funktion als Ausbilder unserer Gruppe Wehrpflichtiger bereits den jungen, rundlichen Familienvater Fröschel aus Pirmasens derart über den Kasernenhof gehetzt, dass der mit Herzversagen im Krankenhaus in Koblenz gelandet war. Er hatte den scheinbar obercoolen Zuhälter-Berufsanfänger Pauli aus Mannheim bei einem nächtlichen Gewaltmarsch mit Weinkrämpfen am Waldrand zurückgelassen und galt als Mitschuldiger an mindestens einem der drei Suizide in der deshalb so genannten Drei-Kreuze-Batterie in der Klotzbergkaserne in Idar-Oberstein. Dann hatte er sich mit mir angelegt. Es kam zu jenem besonderen Moment, in dem selbst dem Schreihals Ratzke die Sprache versagte. Als er nur noch hasserfüllt flüsterte: „Ich bring Sie vors Kriegsgericht! Ich lasse Sie standrechtlich erschießen!“ Dabei waren wir nicht im Krieg, sondern nur unter seinem Kommando auf einer Gefechtsübung im Hunsrück. „Gas-Alarm! Maske aufsetzen! Hinlegen! Auf, auf, Marsch, Marsch! Hinlegen! Weiterlaufen!“ Kann die lästige Laus nicht einfach mal das Maul halten? Ja, kann sie. Wieder hatte er geschrien „Stopp! Lagebesprechung! Wer liegt hinter diesem Hügel da vorne? Der Feind natürlich, ihr Blindgänger! Wie verhalten wir uns in dieser Gefechtssituation, Kanonier Knorr?“ Und da sagte ich laut und deutlich: „In dieser Gefechtssituation, Herr Unteroffizier, erschieße ich Sie von hinten!“ Man wird ja wohl mal einen Scherz machen dürfen. Aber: Drama ohnegleichen! Bei den späteren Verhören haben alle meine Gefechtskameraden bestätigt, was wir ausgemacht hatten und ich steif und fest behauptete. Dass mein Satz nämlich lautete: „Wir schleichen uns von hinten an und schießen sie dann tot, die Feinde.“ Sowas vergisst man doch nicht. Damals nicht und heute immer noch nicht, Ratzke, du miese Pfeife! Aber für ihn sollte es noch übler kommen. In der Altstadt von Barcelona habe ich in der Nähe der Kathedrale eine sehr preiswerte Pension zum Übernachten gefunden. Überhaupt: phantastische Preise hier. Ein Schachtel Celtas mit 20 Zigaretten kostet fünf Peseten! Das sind keine 20 Pfennig. 60 Mark „Übergangsbeihilfe“ hatte ich immerhin zum Abschied vom Militär bekommen. Das sollte reichen. Die alte, halbglatzerte Wirtin der kleinen Pension im dritten Stock des sehr alten Hauses an der Calle de la Leona ist ein bisschen misstrauisch, weil ich kaum Gepäck bei mir habe, und hat mir keinen Haustürschlüssel mitgegeben. Ich soll, wenn es spät würde, einfach in die Hände klatschen. Sie führt es vor. Aber wozu das Klatschen gut sein soll, habe ich trotz ihres Wortschwalles nicht verstanden. Ob sich die Tür dann wie von Geisterhand öffnen würde? Später trinke ich in verschiedenen Kneipen ein paar Bier und staune: Was für ein Dreck! Man glaubt es nicht. Es gibt keine Aschenbecher. Zigarettenkippen, Nussschalen, Olivenkerne, Spucke und was sonst noch – es fliegt alles auf den Boden. Zum Schluss werden Sägespäne ausgestreut, und der ganze Plunder wird zusammengekehrt. Für einen, der die Hälfte seiner Militärzeit mit Putzen zugebracht hat, ein ziemlicher Schock! Naja, auch nicht wirklich. Andere Länder, andere Spucknäpfe. Wie viele Bier waren es wirklich? Ich bin olé und ziemlich gut druff. „Canja“ bedeutet gezapft, „cerveza“ in der Flasche. Wieder was gelernt. Schließlich stehe ich vor meiner Pension und klatsche tatsächlich in die Hände. Die Mitternacht zieht näher schon, in stummer Ruh liegt Barcelona – es ist unglaublich still hier in dieser menschenleeren Altstadt. Das Klatsch-Geräusch hallt durch die Gasse. Von nicht allzu weit her kommt ein anderes Klatschen. Schließlich höre ich schlurfende Schritte, ein alter Mann biegt um die Ecke. Aus einem gewaltigen Schlüsselbund fischt er den für meine Haustüre passenden Schlüssel und schließt mir auf. „Bona nit, senyor!“ Ein leibhaftiger Nachtwächter. So mag es im Mittelalter auch in Idar-Oberstein zugegangen sein. Sie hatten mich also wegen „von hinten erschießen“ nicht vor ein Militärgericht oder in den Kasernenknast bringen können und leider auch nicht aus der Armee entlassen damals, in der Edelstein- und Soldatenschleiferstadt an der Nahe. Doch Drei-Kreuze-Hauptmann Schmitt, „Tapferkeitsoffizier“ im Zweiten Weltkrieg, danach wegen unterdurchschnittlicher Intelligenz im Zivilleben nicht zurechtgekommen und deshalb sofort Bundeswehroffizier der ersten Stunde geworden, ließ mich noch zu einer Niederbrüll-Belehrung bei sich antreten. Sein Vokabular bestand aus sich wiederholenden Schimpfworten wie „Abiturient!“, „Weichei!“, „Arrogantes Stück Mist!“, „Lügner!“, „Versager“, „Was bilden Sie sich ein!“, „Ich war im Krieg!“, „Sie Friedenspfeife!“, „Wir haben noch gekämpft!“ Bis ich ihn unterbrach. „Herr Hauptmann“, sagte ich, „erstens bin ich der fitteste Soldat in dieser ganzen Scheiß-Kaserne. Sportabitur Eins. Und zweitens habe ich in meinem Leben wahrscheinlich mehr Leichen gesehen als Sie in Ihrem ganzen Scheißkrieg!“ Er schnappte nach Luft, ich wurde noch leiser. „Ich habe im Krieg vor genau 14 Jahren drei Bombennächte in Dresden überlebt. Und soll ich Ihnen erzählen, was die Russen auf unserer Flucht danach mit meiner Mutter gemacht haben?!“ Nein, das wollte er nicht mehr hören. Zum Glück, denn die Russen hatten ja gar nichts mit meiner Mutter machen können, weil meine Großmutter sie vorher Gottseidank unter den Tisch gesoffen hatte. Ich war entlassen. Jetzt aber gute Nacht in Barcelona. Was sollen diese lästigen Erinnerungen? Wo bleiben überhaupt meine Freunde? Am nächsten Tag entdecke ich bei meinem Gang durchs gotische Viertel an der Plaça Reial den Jazzclub „Jamboree“. Mein künftiges Abendprogramm ist damit hoffentlich gesichert. Radebrechend frage ich mich zum Hauptpostamt durch und kann, nach allem, was ich über Postämter weiß, nicht glauben, dass es dieses Riesending wirklich sein soll. Ein gewaltiges Gebäude in der Nähe des Hafens, mit dicken Säulen vor dicken Bronzetüren und einer hohen Schalterhalle mit poliertem Marmorboden. In diesem Post-Palast händigt man mir tatsächlich ein kleines, schäbiges Telegramm meiner Freunde aus Deutschland aus. Sie werden nicht kommen; sie haben es nur bis Baden-Baden geschafft. „Reise abgebrochen. Geld alle. Wurden in Spielhalle ausgeraubt. Du musst Aktion ‚Vergiss den Kommiss alleine durchziehen. Viel Spaß.“ Auf diese Typen ist einfach kein Verlass! Ich hätte es wissen müssen. Nach der Grundausbildung hatte in Idar-Oberstein die Spezial-Ausbildung an der 155 Millimeter Panzerhaubitze M44 begonnen. Das ist ein eindrucksvolles Riesending, eine Kanone auf Panzerketten, aber kein Panzer, sondern ein fahrendes Geschütz, das 40 und mehr Kilometer weit schießen kann. Es ist ein sehr interessantes, ja unterhaltsames Gerät, wenn man damit mal im Gelände herumfahren oder im Manöver damit schießen kann. Macht manchmal Machtgefühle, macht meist aber schlechte Laune. Es steht fast immer in der Garage und muss durchgehend geputzt werden. Ein Abgrund an Langeweile, Gammeldienst ohne Ende – so niederschmetternd dumpf, dass ich mich, nur um etwas Neues zu erleben, zu einem Reserveoffiziersauswahl-Kurs gemeldet hatte. Eine weitere Fehlentscheidung. Lui und Fritz waren wie immer gerne dabei. Die wahre Gefahr bestand darin, den Kurs zu bestehen, zum Fähnrich befördert zu werden und ein halbes Jahr länger dienen zu müssen. Das galt es zu vermeiden. Hilfreich dabei war jener Alarm mit nachfolgendem Nachtmarsch. Da landeten wir nach drei Stunden todmüde endlich zurück auf unseren Stuben und in den Betten, als schon wieder Alarm gebrüllt wurde. Trillerpfeifen, Kommandos, Raustreten, Antreten auf dem Kasernenhof, Ansprache des kommandierenden Offiziers: „Die Durchzählung hat ergeben, dass wir bei dem Marsch heute Nacht den Kameraden Weisser verloren haben! Hat sich wohl verlaufen. Freiwillige für einen Suchtrupp vortreten!“ Und dann traten doch tatsächlich von 30 Offiziersanwärtern 27 nach vorne. Nur Lui, Fritz und ich nicht. Wir blieben stehen. So lange, bis auf die lautstarke Kaskade von Beschimpfungen und menschlich-militärisch-moralischen Vorhaltungen hin sich maulend erst mein Lui und schließlich auch der Alte Fritz hinüber zum Freiwilligenhaufen bequemten. Also stand nur noch ich da, das bloßgestellte Kameradenschwein, einsam und verlassen auf der falschen Seite und wurde entsprechend beschimpft. Aber dann, erinnert euch, ihr zwei ranschmeißerischen Versager, erhob wer die Stimme? Ich natürlich! Und ich sagte: „Herr Leutnant, es gibt jetzt wirklich genug Freiwillige für einen Suchtrupp. Erstens. Und zweitens halte ich das Ganze für eine Inszenierung. Ich glaube nämlich nicht, dass überhaupt jemand verloren gegangen ist. Sonst hätten Sie doch keine Freiwilligen gesucht, sondern für alle eine Suchaktion befohlen. Für solche durchsichtigen Gesinnungsprüfungen stehe ich nicht zur Verfügung. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.“ Gelächter. Trillerpfeife. Alle wegtreten. „Gefreiter Knorr, wir sprechen uns noch!“ Da gab’s nicht viel zu besprechen. So kann es gelingen: Man wird kein Fähnrich der Reserve. Am Abend gehe ich wieder durchs Gotische Viertel zur Plaça Reial und betrete den „Jamboree“-Club. Rappelvoll, der Laden. Der Club existiert erst seit zwei Monaten, es gibt prima Musik, und der Schlagzeuger heißt Chip Collins. Das und später noch viel mehr erfahre ich von Jesús. Ein junger Mann mit diesem außergewöhnlichen Vornamen spricht mich nämlich bald auf freundliche Weise neugierig an. Endlich mal jemand, mit dem ich mich unterhalten kann. Auf Englisch. Er interessiert sich für mich, den offenbar auffallend Fremden hier. Und ich erfahre von ihm, dass er Architekturstudent ist und mit Vornamen keineswegs nur Jesús, sondern tatsächlich Jesús Lenin und mit Nachnamen Adrover heißt. Jesús spricht man in Spanien vorne mit „ch“: Chesuuus. Seine Mutter, so erzählt er mir, ist eine streng gläubige Katholikin, sein Vater Kommunist. Bei seiner Geburt hatte sich das erstaunlich kompromissbereite Elternpaar auf diesen Vornamen geeinigt. Jesús Lenin! Toll! Wir reden über Musik, was sich in einem Jazzclub ja einigermaßen anbietet. Er hat wirklich Ahnung. Ich gebe ein bisschen damit an, dass ich vergangenes Jahr Louis Armstrong mit seinen All Stars live im großen Saal der amerikanischen Kaserne in Baumholder gesehen habe. „Mit Velma Middleton, Trummy Young und dem Schlagzeuger Jonny Barcelona.“ – „Danny“, unterbricht mich Jesús Lenin. „Was?“ – „Der Schlagzeuger heißt Danny! Ich habe die Truppe am 20. Mai letztes Jahr hier im ,La Paloma‘ gesehen. Das ist der tollste Schuppen in ganz Barcelona.“ Das war’s dann mit der Angeberei. Aber woran erinnern wir uns beide mit heftiger Begeisterung? Daran, wie Louis Armstrong mit seiner Trompete und Trummy Young mit der Posaune beim „Tiger Rag“ aufeinander losgehen und sich hochjazzen, andonnern, ja geradezu duellieren! Phan-tas-tisch! Eines der fröhlichsten Erlebnisse in der ganzen beschissenen Bundeswehrzeit. Dass ich selber bei einer Militärkapelle ein Schlagzeug bedient habe, erzähle ich meinem neuen Freund erst mal nicht. Spät gehen im „Jamboree“ die Lichter aus, und wir beschließen, uns wiederzusehen. Jesús Lenin wird mir die Stadt zeigen. Der Alte Fritz (Pfadfindergitarre), Lui der Wüstenfuchs (klassisches Piano) und ich hatten die Gründung der Bundeswehrkapelle „The Klotzberg Five“ betrieben, um in einem Übungsraum außerhalb der Kaserne abends, mit Sonder-Ausgangsgenehmigung, eine Art musikalisches Zusammenspiel üben zu können. Ich also am Schlagzeug. Zwar war ich ein großer Fan des amerikanischen Jazz-Trommlers Gene Krupa, aber zur rhythmischen Begleitung von Tanzmusik sah ich mich aufgrund mangelnder Übungszeit nicht wirklich imstande. Zwei weitere ebenfalls minderbegabte Amateurmusiker hatten sich aus Freizeitgründen zu uns gesellt. Die Band war komplett, aber im Übungsraum nur sehr, sehr selten, ja wochenlang gar nicht anzutreffen. Stattdessen fanden regelmäßig gemeinsame nächtliche Herumtreibereien sowohl in Idar als auch in Oberstein statt. Hilfreich waren dabei immer wieder die erstaunlichen Fähigkeiten des an sich zart besaiteten Richtersohns Lui. Er konnte Autos knacken und kurzschließen. Wichtig war natürlich, das geliehene Fahrzeug am Schluss des Ausflugs nicht direkt vor dem Kasernentor abzustellen. Doch dann passierte eines Tages das Unvorstellbare: Wir wurden als Bundeswehrkapelle abkommandiert zu einem Manöverball in Birkenfeld. Hatte uns denn niemand vorher wenigstens ein einziges Mal anhören wollen? Ein Auftritt von immenser Peinlichkeit stand uns bevor. Doch nun gibt es endlich einmal auch Erfreuliches vom Hauptmann Schmitt zu berichten. Als nämlich bei jenem Manöverball in einer Gaststätte mit Tanzboden in Birkenfeld erst ich am Schlagzeug und später die ganze Bundeswehrkapelle „The Klotzberg Five“ nach und nach freundlich und gnädig von einheimischen Musikern abgelöst worden waren, konnte der Hauptmann sein Strafgericht über uns unfähige Bandmitglieder nicht mehr ausüben. Er hatte zu Beginn des Abends eine Rede an die zahlreich anwesende Bevölkerung gehalten, die friedliche Koexistenz von Zivilisten und Soldaten, die Symbiose von Tanz- und Verteidigungsbereitschaft gepriesen, und mit den Worten geendet: „Und nun, Klotzberg-Fünf, spielt auf!“ Zwei Stunden später: Die Stimmung war prächtig, wohl auch wegen der nun professionellen Tanzmusik. Es wurde getrunken, getanzt und gejohlt, da betrat Hauptmann Schmitt die Bühne ein zweites Mal. Schwankend und offensichtlich volltrunken begann er seine Eingangsrede wortwörtlich abermals vorzutragen. Nach wenigen Sätzen – im Publikum wurde schon heftig gelacht – verlor er das Gleichgewicht und stürzte hinunter auf die Tanzfläche. Bis auf ein wenig Blut hier, ein wenig Erbrochenes da und leichte Gedächtnisstörungen am nächsten Tag blieb er unverletzt. Und da er der ranghöchste anwesende Offizier war, hatten die Manöverball-Vorfälle selbstverständlich keine weiteren Folgen. Unsere Band allerdings löste sich danach auf. Ich werde viel lesen müssen, wenn ich wieder in Deutschland bin. Was, zum Geier, ist „Jugendstil“? Das Ding heißt auf Spanisch, Englisch und Französisch „Art Nouveau“. Und wieso gibt es in Barcelona eine besondere Variante davon? Mit Jesús Lenin, dem freundlichen schwarzgelockten Architekturstudenten, klettere ich am Vormittag auf einer im Bau befindlichen Kirche herum. Sagrada Familia heißt das schnörkelige Riesengebäude. So wie die vier Leute hier arbeiten, wird das nie fertig, sage ich. Aber mein neuer Freund und Fremdenführer weist mich zurecht: „Wenn das Schwein Franco erst mal weg ist, wird dies die schönste Kirche der Welt, und Millionen Touristen werden kommen und sie bestaunen.“ Wer’s glaubt! Am Nachmittag dann glaube ich schon eher, dass irgendwann einmal ein paar mehr Besucher hierher in diesen Park Güell kommen werden als heute, am Gründonnerstag 1960. Wir sitzen auf einer mit Mosaiksteinchen belegten gewellten Bank mit Blick über ganz Barcelona inmitten eines großen Landschaftsparks, der von einem Architekten namens Gaudí durch und durch bunt und künstlerisch gestaltet ist. Gaudí bedeutet wahrscheinlich „Vergnügen“. Das passt. Es schadet übrigens nichts, dass ich nicht Spanisch spreche. Hier sprechen die Leute Katalanisch, und es ist ja egal, ob ich Spanisch oder Catalan nicht verstehe. Jesús Lenin spricht Englisch mit mir. Heute nur über Politik. Er möchte gegen die Diktatur kämpfen, sagt er. Er will, wie die Basken das Baskenland, auch seine Heimat Katalonien vom Joch der Spanier befreien. „Was, du warst beim Militär? Ich gehöre zu einer studentischen Untergrundorganisation. Kannst du uns Waffen besorgen? Kannst du uns als Kurier zu unseren geflohenen Freunden nach Frankreich helfen?“ Nun aber mal halblang, mein Freund. Ich bin ein friedliebender Mensch und militärisch nicht zu gebrauchen. Die Waffen sind abgegeben, ich will nichts als Ruhe und Vergessen und frage mich sowieso, weshalb ich den Wehrdienst nicht von Anfang an verweigert habe. Es war aber damals so: Wenn man, wie erzählt wurde, als Wehrdienstverweigerer bei der Gewissensprüfung im Kreiswehrersatzamt in Marburg gefragt wurde „Wie verhalten Sie sich, wenn ein Russe Ihre Frau vergewaltigen will?“, dann hätte ich wohl erst mal drumherum geredet, dass ich ja leider Gottes keine Frau hätte, mir aber dringend eine wünschte und sei es nur vorübergehend. Wenn allerdings dieser heiße Wunsch endlich in Erfüllung gehen und ein entmenschter Russe versuchen sollte, mir unvorstellbarerweise die Liebste zu entreißen, ja dann – würde ich ihn natürlich auf der Stelle massakrieren. Vorausgesetzt, ich wäre stärker als er oder hätte eine Waffe. Spätestens an dieser Stelle wäre ich durchgefallen und sofort eingezogen worden. Also Junge, sagte ich mir seinerzeit, bring die zwölf Monate hinter dich, es wird vielleicht ganz spannend, und Pazifist kannst du später noch werden. Nun also bin ich es. Lenin hat ein Einsehen, und weil er ja auch noch Jesus ist, verabreden wir uns für morgen Abend zur Karfreitagsprozession. Ich kenne Umzüge nur als Faschingsumzüge und die auch nur aus dem Fernsehen. Motivwagen, Bonbons, Helau und Musicke. Religiöse Umzüge kenne ich gar nicht. Deshalb bin ich als nordhessischer mehr oder weniger Agrarprotestant auch so vollkommen fassungslos über das, was da heute Abend im gotischen Viertel von Barcelona geschieht. Der Zug ist an der Kathedrale gestartet. Sehr viele festlich gekleidete Menschen säumen die Straßen, es herrscht Stille im ganzen Viertel, bis mit Trommelschlägen und getragener Trauermusik eine Prozession an mir vorüberzuziehen beginnt. Langsam schreiten Männer in langen Kutten mit spitzen Kapuzen über den Köpfen vorbei. Manche sind barfuß, tragen große Kerzen vor sich her. Auf hölzernen Gestellen tragen kräftige Männer große Skulpturen: immer wieder der gekreuzigte Jesus oder die weinende Maria. Aber vor allem – ich fasse es nicht – gehen da zwischendurch Männer mit freiem Oberkörper, die sich mit Lederpeitschen über die Schulter auf den Rücken schlagen. Manche bluten bereits. „Waruuum? Waruuum?“ beziehungsweise „Why? Why?“, flüstere ich Jesús Lenin zu. Leise erklärt er mir, dass diese Leute sich geißeln, weil sie ihre Sünden bereuen und auf diese Weise Buße tun. „Show penance“ nennt er das. Ich werde es später nachschlagen. Aber ich frage mich doch, was die Herrschaften Fürchterliches verbrochen haben, um so mit sich umgehen zu müssen. Ich selbst bin mir jedenfalls keiner Sünde bewusst, für die ich mir den Buckel blutig hauen würde. Oder? Der anfängliche Anflug von Ergriffenheit ist jedenfalls völlig dahin heute Abend. Im juristischen Sinn gibt es ja keine Sünde. Vergehen, Verbrechen, das ja. Und ich frage mich doch, ob die Sache mit dem Bergepanzer darunterfällt. Verjährt ist sie wohl noch nicht. Aber direkt meine Schuld war sie auch nicht. Hätte ich diesen Akt von Vandalismus oder gar Sabotage verhindern können? Sogar müssen? Dies war passiert: Der Fahrer unserer Panzerhaubitze, ein Hauptgefreiter namens..., an dieser Stelle keine Namen, der jedenfalls war mal wieder zu Recht stocksauer. Man hatte ihn wegen Aufsässigkeit, Meckerns und beinahe Befehlsverweigerung ein Wochenende in den Kasernenknast geschickt und ihm zum dritten Mal nacheinander den Wochenendurlaub gesperrt. Dabei hatte der Mann einfach keinen Bock mehr gehabt, endlos sein längst sauber geputztes Geschütz immer weiter zu putzen. Nun saßen wir zu acht in unserem Riesenfahrzeug und donnerten über den Truppenübungsplatz, als der Fahrer uns plötzlich laut brüllend fragte: „Wollt ihr mal einen Bergepanzer sehen?“ Keiner hatte je einen Bergepanzer gesehen, keiner verneinte, wahrscheinlich alle brüllten begeistert „Jaa!“ Im nächsten Augenblick krachte und knirschte es fürchterlich. Wir wurden nach vorne geschleudert, unsere Haubitze blieb abrupt stehen, das Getriebe war hin. Der Hauptgefreite hatte in voller Fahrt mit großer Gewalt den Rückwärtsgang reingehauen. Die nächsten vier Stunden verbrachten wir rauchend, scherzend und wartend am Wegesrand, bis endlich jenes M74-Ungetüm auftauchte, das man Bergepanzer nennt, weil es in der Lage ist, selbst große Panzer und andere havarierte Kettenfahrzeuge an den Haken zu nehmen und abzuschleppen. Zu bergen eben. Und wir? Wer ohne Sünde ist, der werfe die erste Handgranate, wie Hauptmann Schmitt zu sagen pflegte. Ostersonntag 1960 in Barcelona. Na, Lui, und du, Alter Fritz, was macht ihr wohl heute daheim? Bunte Eier suchen, Osterspaziergang mit der Familie? Geht’s noch langweiliger? Ich, meine Freunde, ich dagegen erlebe hier etwas Sensationelles. Ich bin beim Stierkampf! Im La Monumental, oder Plaza de toros Monumental de Barcelona. Wie das schon klingt! Und wie das aussieht! Außen schmücken blaue und weiße Kacheln das große Gebäude im maurischen Stil. Und innen sitze ich mit 20.000 Zuschauern im riesigen Rund. Die Leute sind so unglaublich begeistert von dem, was da in der Arena vor sich geht, es herrscht eine Stimmung wie – na ja, wie beim Stierkampf wahrscheinlich. Allerdings kann ich nicht ganz folgen. Mann auf gepolstertem Pferd sticht Stier mit langer Lanze in den Nacken. Männer stechen bunte Spieße in Stier, rotes Blut auf schwarzem Stier, Stier ist sehr gereizt, sehr gefährlich. Mann mit rotem Tuch reizt Stier weiter und sticht ihn schließlich in den Nacken. Stier tot. Wird von Pferden aus der Arena geschleift. Riesenapplaus. Immer wieder denke ich: „Wärst du doch mit zum Fußball gegangen!“ Aber den hat man zu Hause ja dauernd. Stierkampf nie. Ich habe darüber mal was bei Hemingway gelesen. Der war ja ein großer Stierkampf-Fan. Aber ich erinnere mich nur an die Szene im Schlafsack. Mit einer namens Pilar – oder war’s Maria? Sehr scharfe Stelle jedenfalls. Ich kann mich wirklich nicht konzentrieren. Stierkampf gab es wahrscheinlich nur in „Fiesta“. Hier gibt es immer mehr tote Stiere und Riesenbegeisterung um mich herum. Na, ich weiß nicht. Am Abend treffe ich Jesús Lenin, der beim Fußball war. Dort wo die Rambla auf die Plaça de Catalunya mündet, stehen in Grüppchen Hunderte Fußballfans und besprechen, was heute in Spaniens Stadien los war. „Das ist an jedem Spieltag so. Die Corrida-Fans versammeln sich unten am Columbus-Denkmal, am anderen Ende der Ramblas“, sagt mein Freund etwas hämisch. Aber ich bleibe hier bei ihm und bin neidisch. Der FC Barcelona hat daheim, im Camp Nou, 5:0 gegen Real Zaragoza gewonnen und ist spanischer Meister geworden! Das ist meine Welt! Das nenne ich mal eine Fiesta! Als die Pferde zum siebten Mal einen toten Stier rausschleifen und ich langsam die Begeisterung der Leute nicht mehr teilen kann, fällt mir doch leider auch der Unteroffizier Ratzke noch mal ein. Komme ich denn nie los von dem Kerl? Er und seinesgleichen hatten mir in diesem Jahr ein Gefühl beigebracht, das ich vorher nicht kannte: Hass. Darf man einen Blödmann einen Blödmann nennen, selbst wenn er tot ist? Damals gegen Ende der Grundausbildung in Idar-Oberstein hatte er noch unseren Zug Wehrpflichtiger zu einem Wettbewerb ins Schwimmbad geführt. Dort standen wir, in Reih und Glied angetreten, in diesen widerlichen NATO-Badehosen vor ihm, als er wie zum Scherz fragte: „Wissen Sie, was ein Seemannsköpper ist? Soll ich Ihnen das mal vorführen?“ Einer – war’s Lui Wüstenfuchs, war’s der Alte Fritz? Ich war’s nicht – rief „Gerne, Herr Unteroffizier!“ Da sprang Ratzke, Kopf voraus mit am Körper angelegten Armen, schwungvoll ins Wasser und brach sich das Genick. Er war sofort tot, weil er seinen Seemannsköpper im flachen Teil des Schwimmbeckens vorgeführt hatte. Traurige Sache damals. Heute nicht mehr. Ostern ist vorüber, das Geld geht zur Neige, der Stierkampf hat mich 50 Peseten gekostet. Ich denke an Aufbruch. Was soll noch kommen? „Willst du ein paar nette Mädchen kennenlernen?“ Wie bitte? Jesús Lenin schreckt mich mit dieser ungeheuerlichen Frage beim Café solo unter freiem Himmel an diesem endlich mal strahlend schönen, warmen Morgen aus meinen Abschiedsgedanken. Mein Gott, ja! Natürlich! Nichts hatte ich mir seit Tagen, seien wir ehrlich: seit Monaten, mehr gewünscht als nette, naja überhaupt mal wieder Mädchen kennenzulernen. „Heute Nachmittag. Da haben sie Zeit, da ist nicht so viel los. Da stelle ich sie dir vor.“ Oh Jesús, meine Hoffnung! Oh Lenin, mein Befreier – lass Nachmittag werden! Wir treffen Sonja und Rosa Maria entspannt bei Kaffee und Cava in der Carrer de l'Arc del Teatre vor einer Bar. Sie sind die optische Sensation der Gasse. So grell geschminkt, so leicht bekleidet, so lasziv in ihre Stühlchen drapiert – sie sind eindeutig Nutten. Und so jung! Vielleicht sogar jünger als wir. Mein treuer Kamerad bescheidet sich mit Sonja. Danke, mein Freund! Denn Rosa Maria ist die attraktivste Frau, die ich außerhalb von Filmen und Zeitschriften jemals zu Gesicht bekommen habe. Sie bietet mir einen Schluck Sekt aus ihrem Glas und dann sofort ihre Dienste an. „Aber Beauty, dich kann ich doch niemals bezahlen“, muss ich ihr leider sagen, „so viel Geld habe ich nicht.“ Sie fordert mich auf, ihr mein Portemonnaie zu zeigen. Ich tu’s. Sie zupft sich zwei kleine Peseten-Scheinchen heraus, nimmt mich bei der Hand und steigt trällernd mit mir die Stufen zu den Zimmern über der Bar hinauf. Alles, was ich bisher an Sex erlebt hatte – und es war nun wirklich nicht viel -, war im Dunklen geschehen. Verkrampft, betrunken, dumpf, ängstlich, kurz und wie gar nicht zu zweit. Aber jetzt ist heller Nachmittag. Weiße Laken auf dem großen Bett im sonnenhellen Zimmer und diese glorreiche, selbstverständliche Nacktheit. Sie spielt mit mir. Sie krallt mich, sie beißt mich, sie streichelt mich, sie bestaunt mich – mich! Sie lacht. Oh, du Schöne! Ich bebe. So etwas habe ich noch nie erlebt. Halleluja, welch ein Osterfest! Santa Puta Rosa Maria, ich werde dich nie vergessen! Ich liebe dich! Sie liebt mich natürlich nicht. Aber wir treffen uns trotzdem noch zwei Mal. An den soeben eingeführten Zusatzfeiertagen Osterdienstag und Ostermittwoch. Beim letzten Mal nimmt sie noch nicht einmal Geld von mir. Ich garantiere ihr zum Dank die Heiligsprechung, und alle Osterglocken läuten. Doch dann ist plötzlich Schluss. Und sie erklärt mir, warum: Draußen, im Meer vor Barcelona, liegt seit gestern der amerikanische Flugzeugträger USS Saratoga. „Pedro, Amigo, versteh mich! 5500 Mann Besatzung. Lauter junge, blonde, schöne Männer wie du. Aber reich. Ich habe keine Zeit mehr für dich. Wir müssen uns trennen. Bitte schreib mir nicht. Adéu!“