Die Erfolgsfaktoren der Schweiz und wie wir dabei sind, sie preiszugeben - Reformen notwendig

Meinung Reformen notwendig – Die Erfolgsfaktoren der Schweiz und wie wir dabei sind, sie preiszugeben Das Land sticht unter den entwickelten Nationen hervor. Ein Grund dafür ist die direkte Demokratie, die bei der Lösung der drängendsten Probleme nun aber zu versagen droht. Doch zu spät ist es nicht. Kommentar von Mark Schelker Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren. Abo abschliessenLogin BotTalk Der internationale Erfolg der Schweiz beruht auf einigen zentralen Standortfaktoren. Dazu gehören ein hervorragendes Bildungssystem, flexible Arbeitsmärkte und ein vergleichsweise effizienter Staat. Das ist nicht nur für die Einwohner attraktiv, sondern auch für Unternehmen. Diese Standortfaktoren fallen aber nicht vom Himmel. Sie sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. Aber warum sind sie im Durchschnitt etwas besser als anderswo? Und wird das auf absehbare Zeit so bleiben? Schuldenbremse Die politischen Spielregeln oder, wie Ökonomen zu sagen pflegen, die politischen Institutionen haben einen entscheidenden Einfluss auf unsere politischen Entscheidungen. Wir sind von starken Demokratien umgeben. Auch dort gelten demokratische Spielregeln. Es finden regelmässig freie und faire Wahlen statt, die Regierungsbildung folgt festen, in der Verfassung verankerten Regeln, und die Gerichte sind unabhängig. Dennoch ist die Lage in vielen Demokratien prekär. Neben komplexer und überbordender Regulierung und teilweise rigiden Arbeitsmärkten sind die fiskalpolitischen Herausforderungen in vielen OECD-Ländern enorm. Die USA, England, Frankreich und Italien, aber auch Österreich und zunehmend Deutschland haben zudem kaum noch finanzpolitischen Spielraum. Problematisch ist nicht nur der bereits aufgelaufene, teilweise exorbitante Schuldenstand, sondern vor allem die anhaltende Tendenz, dass die Staatsausgaben strukturell und damit systematisch nicht durch eigene Einnahmen gedeckt sind. Das alles geschah in Friedenszeiten und noch vor der kommenden fiskalischen Herausforderung einer rasch alternden Gesellschaft. Die Schweiz erscheint hier als grosse Ausnahme, als Oase der Nachhaltigkeit, als Insel der Glückseligen. Die Staatsverschuldung der drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden liegt bei knapp 40% des Bruttoinlandprodukts (BIP), und strukturelle Defizite wurden durch die Schuldenbremse verhindert. Und damit sind wir bei der ersten zentralen politischen Institution, die unser System von anderen unterscheidet: bei der Schuldenbremse. Andere Länder kennen entweder zahnlose Fiskalregeln wie die EU oder hebeln ihre Schuldenbremse aus wie Deutschland. Die Schweizer Schuldenbremse hingegen scheint dem politischen Druck (noch) standzuhalten und damit das fiskalische Gleichgewicht weiterhin zu gewährleisten. Zwei weitere institutionelle Besonderheiten der Schweiz haben bisher geholfen, die zentralen Standortfaktoren zu schützen. Es sind dies der Föderalismus und die direkte Demokratie. Aushöhlung der Altersvorsorge Die ökonomische Forschung der letzten dreissig Jahre hat gezeigt, dass der Föderalismus und der damit verbundene politische Wettbewerb zwischen den Kantonen und den Gemeinden positive Wirkungen entfaltet haben. Eine wichtige Rolle spielt auch die direkte Demokratie, die den Stimmbürgern und Steuerzahlern ein Vetorecht gegen überbordende Vorlagen einräumt. Beide Faktoren haben dazu beigetragen, den Arbeitsmarkt offen und flexibel zu halten, den Staat nicht überborden zu lassen und ihn vergleichsweise effizient zu gestalten. Aber das ist nur der erfreuliche Teil der Geschichte. Der unerfreuliche Teil besteht darin, dass unser Staatshaushalt weit weniger solide ist, als es den Anschein macht. Die grossen Sozialversicherungen wie die erste Säule der Altersvorsorge (AHV) sind entweder nicht der Schuldenbremse unterstellt oder wie die zweite Säule (Pensionskassen) ausserhalb der Staatsrechnung organisiert und werden politisch ausgehöhlt. In beiden Fällen bauen sich enorme Ungleichgewichte auf. Mit der Einführung der dreizehnten AHV ist bei Ausbleiben von Reformen die von UBS geschätzte zukünftige Finanzierungslücke (diskontiert auf heute) von rund 100% des BIP (Basis: 2021) auf rund 177% des BIP gestiegen. Dies entspricht nicht weniger als sage und schreibe rund 1300 Mrd. Fr. ungedeckter zukünftiger Auszahlungen. Allein für die AHV. Die Vorschläge der Mitte zur Beseitigung der angeblichen Benachteiligung der Ehepaare in der AHV würden bei einer Annahme durch Parlament und Stimmvolk die bestehende Finanzierungslücke um weitere dreistellige Milliardenbeträge vergrössern. «Eine Sanierung der Altersvorsorge und eine Rückkehr zu finanzpolitischer Nachhaltigkeit werden immer illusorischer.» Damit wird deutlich, dass auch die direkte Demokratie kein hinreichend wirksames Instrument zur Sicherung der fiskalischen Nachhaltigkeit mehr ist. Die demografisch bedingte rasche Alterung der Bevölkerung verschärft diese Situation zusätzlich. Der Medianwähler, also der Wähler, der die Altersgruppen in der Mitte teilt und damit bei Mehrheitsabstimmungen die potenziell entscheidende Stimme hat, wird voraussichtlich bereits in den nächsten zehn Jahren über sechzig Jahre alt sein. Eine Sanierung der Altersvorsorge und eine Rückkehr zu finanzpolitischer Nachhaltigkeit werden immer illusorischer. Die direkte Demokratie droht ihre einst fruchtbare und stabilisierende Kraft für die Staatsfinanzen zu verlieren oder gar selbst zum Problem zu werden. Das Demografieproblem muss aber nicht auf alle Bereiche und Ebenen der Finanzpolitik durchschlagen. Gerade der oft ungeliebte Föderalismus mit seinem «Kantönligeist» und seiner «Kakofonie der Entscheidungen» entpuppt sich in dieser Gemengelage als besonders fruchtbare Institution. Während bei zentralstaatlichen Entscheidungen für das ganze Land das Gleiche gilt, ermöglicht der Föderalismus regional unterschiedliche Politikentscheidungen. Damit stehen nicht nachhaltige finanzpolitische Beschlüsse in den einen Kantonen oder Gemeinden im Wettbewerb mit anderen. Föderalismus muss gestärkt werden Dieser Wettbewerbsdruck erhöht die politischen Kosten verschwenderischer Politik, da die Bürger aufgrund der vergleichsweise niedrigen Wanderungskosten in eine effizientere und weniger verschwenderische Region abwandern können. Bereits die Erwartung politikinduzierter Abwanderung hat einen disziplinierenden Effekt auf die politischen Entscheidungen. Wenn die Sicherung nachhaltiger Finanzpolitik auf der Bundesebene immer schwieriger zu werden droht, darf der Föderalismus nicht weiter durch Zentralisierung und die Vergemeinschaftung der Verantwortung zwischen den Ebenen ausgehöhlt werden. Im Gegenteil. Er ist zu entschlacken, und die Autonomie der Kantone und der Gemeinden ist zu stärken, um die Kraft wettbewerblicher Finanzpolitik zu erhalten und zu beleben. Dazu braucht es eine Reform des Föderalismus und des Finanzausgleichs. Alle Aufgaben, die Kantone und Gemeinden selbst erfüllen können, sind konsequent auf der entsprechenden Ebene anzusiedeln. Die Entscheidungsautonomie darf sich nicht auf die Ausgabenkompetenz beschränken, sondern muss auch die Finanzierungsverantwortung umfassen. Nur wer seine Ausgaben mit eigenen Einnahmen bestreiten muss, wägt Kosten und Nutzen sorgfältig ab. Sowohl vertikale Transfers vom Bund an die Kantone bzw. von den Kantonen an die Gemeinden als auch horizontale Transfers über ausgebaute Finanzausgleichssysteme untergraben eine verantwortungsvolle Finanzpolitik. Sie sind auf das notwendige Minimum zu reduzieren. Eine Entflechtung und Klärung der Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung ist daher dringend erforderlich. Die disziplinierende Kraft des föderalistischen Wettbewerbs zwischen den Gebietskörperschaften ist angesichts der demografischen Entwicklung und der abnehmenden Bremswirkung der direkten Demokratie auf Bundesebene wichtiger denn je. Wir sollten die Zeit nicht verstreichen lassen und den gegenwärtigen Reformdruck mit Blick auf die Zukunft konstruktiv nutzen. Newsletter FuW – Das Wochenende Erhalten Sie am Wochenende handverlesene Leseempfehlungen der Redaktion. Jeden Sonntag in Ihrem Postfach. Weitere Newsletter Einloggen Mark Schelker ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg. 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