Peter von Matt: Immer den murmelnden Globus im Ohr
Ein Mensch, der wie Peter von Matt einen großen Teil seines Lebens in Bibliotheken verbracht hat, ist am Ende seines Lebens ein gelassener Mensch. Er kennt jede Intrige, jeden Krieg, jeden größenwahnsinnigen Führer aus der Geschichte der Menschheit. Gelassen, das war der große Schweizer Germanist und Literaturerzähler Peter von Matt, der am Ostermontag im Alter von 87 Jahren in Zürich gestorben ist. Und diese Gelassenheit war dabei nie mit Überdruss, Langeweile oder einem greisenhaften Alleskennen zu verwechseln. Nein, nein, er war neugierig und wissensdurstig und leseenthusiastisch bis zuletzt. Und er war ein großzügiger Denker, der das Wissen, das er seiner lebenslangen Lektüre verdankte, mit vollen Händen an jeden verteilte, der ihn danach fragte. Der Literaturkritiker, sein Freund Marcel Reich-Ranicki aus dem fernen Frankfurt, hat ihn einmal "den besten Erzähler der Schweiz" genannt. Damit hat er von Matt keinen sehr großen Gefallen getan, die Schweizer Schriftsteller wollten sich durchaus nicht von einem Germanisten in ihrem ureigenen Fachgebiet übertrumpfen lassen. Er selbst hat das auch brüsk zurückgewiesen. Er müsse schließlich jeden dritten Satz nachschlagen. Er sei Wissenschaftler, auf die Werke der Schriftsteller angewiesen, um seine Arbeit zu tun. Aus ihm selbst, aus seiner Fantasie, könne er nur wenig schöpfen. "Ich schreibe nichts aus dem Bauch heraus", sagte er einmal. Aber es war natürlich auch etwas dran, an Reich-Ranickis Lob. Der leidenschaftliche Lehrer und berühmte Ordinarius für deutsche Literatur an der Universität Zürich konnte die Literatur, mit der er sich beschäftigte, und seine Forschungsergebnisse darüber glänzend erzählen. Er hat über Grillparzer promoviert, hatte sich im Studium der Anglistik und Amerikanistik viel mit Virginia Woolf und Edgar Allan Poe beschäftigt und große Teile seines Professorenlebens aber mit der zeitgenössischen, der lebendigen deutschen Literatur, vor allem auch der der Schweiz beschäftigt. An der Universität war er ein Star, viele Studierende kamen nur seinetwegen hierher. Er trat regelmäßig in Reich-Ranickis Literarischen Quartett auf, sein Schweizer Idiom war sanft, angenehm und ließ noch seine harten Urteile weich und freundlich klingen. Er konnte auch sehr direkt sein. Die erste Frage, die er Marcel Reich-Ranicki in einem später auf 200 Buchseiten angeschwollenen Gespräch stellte, lautete: "Sind Sie grausam?" – als habe er selbst ein wenig Angst vor den mitunter brutalen Urteilen des deutschen Kritikers, die wie ein Fallbeil ein Werk in zwei Teile spalten konnten. © ZEIT ONLINE Newsletter Natürlich intelligent Künstliche Intelligenz ist die wichtigste Technologie unserer Zeit. Aber auch ein riesiger Hype. Wie man echte Durchbrüche von hohlen Versprechungen unterscheidet, lesen Sie in unserem KI-Newsletter. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Peter von Matt hatte auch ein großes Talent zur Freundschaft. Er war ein geselliger Mensch, wanderte gern und sah sich auch in seinen literarischen Urteilen nicht durch die Freundschaft mit zeitgenössischen Autoren getrübt. Von dem altergermanistischen Dogma, man müsse Autor und Werk streng voneinander trennen und die Person des Autors sei überhaupt uninteressant, hielt er überhaupt nichts. "Ich bin überzeugt, dass ich das prachtvolle Buch nur ganz verstehe, wenn ich über den Autor unterrichtet bin, und je besser ich über ihn unterrichtet bin, um so besser, glaube ich, verstehe ich das Buch", schrieb er in seinem Essay Ihr guten Leute und schlechten Musikanten. Besonders schön in diesem Satz – das eingestreute "glaube ich". Peter von Matt verbarg seine Unsicherheiten selten hinter einer Mauer aus Eindeutigkeiten. Das Schwanken gehörte für ihn immer mit dazu. Und es machte sein Schreiben lebendig. Übrigens waren natürlich nicht alle Schriftsteller für ihn interessant: "Die Person eines Autors interessiert mich nur dann, wenn er ein großartiges Buch geschrieben hat." Mit Max Frisch war er am besten befreundet. Mit ihm teilte er den lebenslangen Kampf gegen letzte Gewissheiten. Im Ringen von Frischs Bildhauer Stiller gegen den Zwang der Gesellschaft, ein Leben lang jener Stiller bleiben zu müssen, erkannte von Matt sein eigenes Ringen um Lebendigkeit und Offenheit: "Anatol Stiller, der tobende und schluchzende Neurotiker, ist in Wahrheit keine Psychostudie, sondern führt exemplarisch die Qualen dessen vor, der lebendig bleiben will in einer verhärteten Welt." Peter von Matt hat diesen Stiller auch als ein politisches Ideal oder eine Art Vorbild betrachtet für den Kampf, den er lange Zeit um und mit und für die Schweiz führte. Er hoffte, dass die neutrale Schweiz zwischen den verhärteten Machtblöcken der Welt ein Labor sein könnte für gute, neue Zukunftsvisionen einer besseren Welt. Da sah er sich lange auch mit dem politischen Max Frisch einig. Überhaupt war ihm unbedingt Zeitgenossenschaft wichtig. Trivialliteratur, Liveticker, Trash-TV, X und TikTok, alles, alles, alles ging ihn an. "Das freie, eigene Denken verlangt den offenen Blick in den Mahlstrom des Mainstreams, in die Produktion der Saisonüberzeugungen und die weltweiten Rituale des Nachbetens. Die Stille, die zum eigenen Denken gehört, gewinnt nur, wem der murmelnde Globus in den Ohren dröhnt", schrieb er in seinem Essay Lesen als Katastrophe. Dass man, um das alles zu verstehen, zu deuten und zu bewältigen, aber selbstverständlich immer der Bibliothek als Rückzugsort und Gegenmacht bedarf, das war für Peter von Matt natürlich eine Selbstverständlichkeit. Mit welcher Freude zitierte er Plutarch, der über die offene Bibliothek des Lucullus schrieb: "Seine Bibliothek blieb nämlich immer offen, die Gänge und Lesesäle frei zugänglich für alle Griechen, welche denn auch entzückt von ihren übrigen Beschäftigungen abließen und dorthin eilten wie zum Wohnsitz der Musen." Peter von Matt liebte zu lesen und liebte den Umgang mit den Autoren. Wie begeistert schildert er einmal, wie ihm der jüngst verstorbene Peter Bichsel die Kunst des Schlangen-Fangens beibrachte und Max Frisch in seiner Wohnung seine Meisterschaft in der Skitechnik des Telemarks demonstrierte. Von Matt erkannte in beiden von den Autoren stolz demonstrierten irdischen Künsten ein Muster für ihre literarischen Techniken der Genauigkeit und Behutsamkeit. Doch die wahre Arbeit des Germanisten beginnt erst mit dem Tod der Autoren. "Wenn große Dichter tot sind, geben sie zu tun", hat er nach dem Tod von Max Frisch geschrieben. Und in dem Text beschreibt er erst mal anschaulich das herrliche Beerdigungsritual des Autors von Montauk und Homo faber und von Andorra. Wie er selbst glaubte, seine Beerdigung minutiös planen zu können, obwohl er doch noch gar keine Erfahrung damit hatte. "Ich weiß nöd, wie me stirbt", habe er gesagt und dann doch seine genauen Anweisungen gegeben, als plane er die perfekte Telemark-Landung beim Skifliegen. Und wie es dann doch völlig anders gekommen ist als geplant, als seine Freunde "getrunken, kräftig getrunken" hatten im Garten vor seinem Haus in Bellinzona und um ein Feuer saßen und schließlich ein Bühnenbildner kam, die Urne unter dem Arm, und anfing, die Asche des Dichters ins Feuer zu streuen und einer nach dem anderen in die Urne griff und etwas Asche ins Feuer warf. "Wurf um Wurf, langsam, feierlich und fröhlich, wehte die Asche des Dichters erneut in das prasselnde Element und tanzte in den Flammen und schoss mit ihnen hinauf zum lautlosen, schwarzen Himmel." Kondolenzbuch Liebe Leserinnen und Leser, im Kommentarbereich dieses Artikels wollen wir Ihnen mit einem Kondolenzbuch die Möglichkeit geben, Ihre Erinnerungen und Gedanken zu teilen. Die Wahrung der Pietät ist uns bei Todesfällen wichtig, weswegen alle Kommentare vor der Veröffentlichung geprüft werden. Die letzte Befreiung des freiheitsliebenden Max Frisch. Doch für den Germanisten – fängt mit dem Tod die Arbeit an. "Die Hauptarbeit, die nach einem solchen Tod beginnt, ist jene, die Max Frisch selbst uns verboten hat. Es muss ein Bildnis gemacht werden", schreibt von Matt, "das endgültige. Das ist ein spannender Vorgang, der die genaue Beobachtung lohnt und den man nicht laufen lassen darf, wie er eben läuft." Es gilt nun, das Wesentliche zu finden und zu beschreiben. Das, was bleiben soll. Und vor allem: das endgültige Verschwinden zu verhindern: "Das Vergessen und die Vergemütlichung sind gleicherweise katastrophal. Man kann sie verhindern, aber das gibt zu tun." Nun ist auch sein eigenes Werk vollendet. Und es beginnt die Arbeit der Lebenden am erzählerischen Werk des wundervollen, großen Germanisten Peter von Matts, der am selben Tag wie der Papst gestorben ist. Er selbst hätte sich nie als Literaturpapst bezeichnen lassen. Das war ja schon sein im Jahr 2013 gestorbener Frankfurter Freund. Dabei hätte ihm der Titel ganz gut gestanden. Ein menschenfreundlicher Gegenpapst aus der Schweiz, der eigenen Fehlbarkeit stets gewiss.