Blackout in Spanien: Acht Stunden Endzeit ohne Strom

Um halb neun abends bleiben die Leute plötzlich auf den Bürgersteigen stehen, lachen und klatschen. Fehlte nur noch, dass sie sich in die Arme fallen. Von der Fahrbahn antwortet ihnen ein kurzes Hupkonzert. Die Ampeln funktionieren wieder. Der Polizist auf der Kreuzung schickt die letzten Wagen in diese und in jene Richtung, dann überlässt er sie ihrem Schicksal. Der Strom ist zurück, das meiste funktioniert, als wäre nichts gewesen. Nach wenigen Minuten beginnt es auf den Straßen nach Essen zu riechen. Nach dem kalten Mittagessen ein warmes Abendessen und dazu die Nachrichten im Fernsehen. Endlich wissen, was los ist. Oder zumindest an den allgemeinen Zweifeln teilhaben. Solch einen Tag hat es in Europa noch nicht gegeben. Solch einen Tag sollte es in Europa nicht geben. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Um kurz nach halb eins war während der Arbeit der Bildschirm verlöscht. Ein Blick in den Sicherungskasten neben der Wohnungstür: noch alle drin. Auch im Treppenhaus geht das Licht nicht. Ich schaue auf die Straße und sehe andere Leute, die auf die Straße schauen. Das Telefon unserer Putzfrau klingelt, es ist ihr Sohn: Auch in seinem Viertel ist der Strom ausgefallen. Ich rufe einen Freund an, der in der holländischen Botschaft im Norden Madrids arbeitet: Ja, auch dort gebe es keinen Strom. „Im ganzen Land ist der Strom ausgefallen.“ Ich rufe bei der deutschen Botschaft an: „Ja, das haben wir auch gehört.“ In ganz Spanien, oder auch im Rest Europas? „Das wissen wir nicht.“ Unsere Putzfrau ist beunruhigt. „Das ist schlimm“, sagt sie. „Das ist Krieg.“ Informationen sind eine knappe Ware Ich gehe auf die Straße, es ist etwa 13 Uhr, die Bürgersteige sind so voll, wie sie es sonst nicht sind. Die Läden haben ihre Türen geöffnet und versuchen im Halbdunkel, ihr Geschäft weiterlaufen zu lassen. Der Supermarkt auf der Ecke ist erleuchtet wie immer, „mit Notstromaggregat“, erklärt jemand. An der nächsten Ecke steige ich zur Metro hinab. Leere, schummrig beleuchtete Bahnsteige. Stecken jetzt Leute in den Tunneln fest? Am Zugang stehen ein paar ratlose Passanten. „In Madrid ist wohl der Strom ausgefallen“, sagt ein junges Mädchen. Einer antwortet: „In ganz Spanien.“ „In ganz Spanien?“ Das Gesicht des Mädchens zeigt alle Emotionen dieses Tages: Unglauben, Erschrecken, Sorge, Spannung, Abenteuerlust. Das können wir unseren Enkeln erzählen. Wenn wir nur schon wüssten, was passiert ist. Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Eine leere Metrostation in Madrid. Quelle: Martin Dahms Informationen sind die meist begehrte, weil knappe Ware an diesem Mittag. Nach den ersten glücklichen Telefonaten eine halbe Stunde zuvor geht bald nichts mehr, kein Netz, keine Anrufe, kein Whatsapp, keine Nachrichten. Gelegentlich hört man jemanden am Mobiltelefon sprechen, ein kurzes Aufbegehren der Normalität, aber nein: Die meisten blicken vergeblich auf ihre Apparate, wählen vergeblich die Nummern ihrer Liebsten, während sie weiter vorantreiben, dorthin, wo sie sonst die Metro gebracht hätte. Die Busse fahren noch und sind voll wie Fischkonserven. Der Verkehr stockt, ohne ganz zusammenzubrechen, an den größeren Kreuzungen stehen Polizisten oder andere Helfer und regeln den Verkehr, so gut es geht. Dauernd rasen Ambulanzen oder Streifenwagen durch die Lücken, den ganzen Tag über verstummen die Sirenen nicht. Im Hotel Riu an der Plaza España frage ich einen Wachmann, ob die Fahrstühle hoch auf die Dachterrasse im 27. Stock steckengeblieben seien. „Nein, nein, nein, hier funktioniert alles wie immer, wir haben Notstrom.“ Es will aber gerade keiner hoch, um den schönsten Blick über Madrid zu genießen. „Putin wird zufrieden sein“, sagt der Wachmann, lacht und fügt eilig hinzu: „Ich hab natürlich keine Ahnung.“ Keiner hat eine Ahnung. Hoffentlich kommt der Strom bald wieder. Hoffentlich stecken nicht zu viele Menschen in Fahrstühlen fest in den vielen Häusern, in den kein Notstromgenerator anspringt. Hoffentlich funktionieren die Krankenhäuser (sie tun es). Hoffentlich ist es nur ein kurzer Spuk. Die Brot- und Wasserregale sind leer In den Straßencafés wird noch bedient: Salate und Wein und Bier, bevor es warm wird. Auf einem Spielplatz schaukeln Jugendliche. Ein Eiscafé neben dem Königspalast verkauft Eiskugeln, die Leute kaufen schon aus Solidarität, bevor alles wegschmilzt. Außerdem ist es warm. Ein herrlicher, sonniger Frühlingstag. Wer nicht nach Hause eilt, steht mit Freunden oder Arbeitskollegen auf der Straße zusammen. Die Büros schließen, die Läden schließen. Die Raucher rauchen, und die Ex-Raucher würden gerne rauchen. Keine Panik, aber ein kleiner, unschöner Druck in der Magengegend. Was ist los? Beginnt so die Endzeit? Ist das Krieg? Der Stromausfall trieb viele Menschen in Madrid vor die Türen von Wohnungen, Büros und Geschäften. Quelle: Martin Dahms Weiterlesen nach der Anzeige Weiterlesen nach der Anzeige Um 15 Uhr hat der Supermarkt auf der Ecke geschlossen, der Aldi und der Día auch, nur beim Corte Inglés, dem großen spanischen Warenhaus, ist der Supermarkt im Keller noch geöffnet. Die Lichter sind heruntergefahren, jeder zweite Gang liegt im Dunkeln, die Musik rieselt wie immer, Stevie Wonder singt „Part-Time Lover“: ein Halloween-Einkaufsfest. Selbst zu Weihnachten sind die Schlangen vor den Kassen nicht so lang wie heute, die Brot- und Wasserregale sind leer, aber die Menschen geduldig. Als wäre alles nur eine Probe. Um 20.30 Uhr gehen alle Lichter wieder an. Die Regale werden sich wieder füllen. Morgen wird die Metro wieder fahren. Morgen steckt niemand mehr im Fahrstuhl fest. Morgen wird wieder Alltag sein.