Spielekreise und Enten füttern? Dass das nicht alles im Alter sein muss, zeigte schon Iris Apfel. Auch andere Seniorinnen suchen nach Lebensmodellen jenseits des Oma-Klischees. Bei einem Musikfestival sorgten jüngst zehn Frauen zwischen 71 und 89 als DJs für Ekstase. Anzeige Vor wenigen Tagen ging in Köln eine Party über die Bühne, wie man sie noch nicht erlebt hat. In Köln nicht und wahrscheinlich auch im Rest des Landes nicht. Gegen Ende des Musikfestivals c/o Pop stand im Bürgerzentrum Ehrenfeld „Forever Fresh“ am DJ-Pult ein „Ü70 DJ-Newcomer-Kollektiv“, so die offizielle Bezeichnung. Zehn Frauen im besten Oma- oder sogar Uroma-Alter, die jüngste 71 Jahre alt, die älteste 89. Nacheinander legten sie ihre Lieblingsmusik auf, an einem Samstagabend von neun bis halb elf, zwei Stücke pro Person. Zu hören gab es Housemusik. Trance. Elektro. Die Black Eyed Peas und die Hymne des 1. FC Köln, die in der Domstadt immer und überall funktioniert. Kein Roland Kaiser. Überhaupt: kein einziger Schlager. Anzeige Der Saal war zum Bersten voll: 400 Gäste von Anfang 20 bis hoch ins Rollator-Alter. Vor dem Eingang drängte sich eine dicke Traube von Leuten, die nicht mehr hineindurften. Der Andrang war so groß, dass der Einlass frühzeitig gestoppt werden musste. Aus Margitta, 72, wird DJ Soundgedöns, aus Irmgard, 89, DJ Ms Crazy Irma Womit vertreiben sich Frauen für gewöhnlich ihre Zeit, wenn sie das 70. Lebensjahr hinter sich haben? Spielekreise? Im Park sitzen? Enten füttern? Elke Kuhlen, c/o-Pop-Chefin und selbst DJ, hatte Ende 2024 eine andere Idee: Wir bilden Ü70-Frauen in einem Crashkurs zu DJs aus! Als Projektleiterin gewann sie DJ Pia Leonhardt. Anzeige „Frauen in dem Alter werden im Allgemeinen viele Fähigkeiten abgesprochen“, sagt Leonhardt. „Dabei sind sie oft super fit und können noch eine Menge schaffen.“ Pia Leonhardt wandte sich an Kölner Seniorennetzwerke und verschickte per Mail einen Aufruf an alle Frauen jenseits der 70, die Lust haben, sich gratis in fünf Workshops à vier Stunden zum DJ ausbilden zu lassen. Ziel: Auflegen bei einer großen Party. 40 Bewerbungen gingen ein, manche von weither, eine aus Berlin, eine aus Spanien. Man kann vor dem Alter nicht fliehen. Aber man kann es als etwas Schönes zeigen Der persönliche Musikgeschmack spielte keine Rolle, die ersten zehn wurden direkt genommen. Den Unterricht erteilten zwei weibliche Kölner DJs. Dabei ging es weniger um Loops und Filter als um die Basics, vor allem die Frage: Wie bekommt man die Musik vom Stick auf die linke und auf die rechte Seite des Mischpults? Fotoshootings wurden organisiert. Stylingfragen für die Party geklärt. Künstlerinnennamen gewählt. Und dann war die Verwandlung perfekt: Aus Margitta, 72, wurde DJ Soundgedöns. Aus Anne Elisabeth, 72, DJ Ätännschen. Aus der gleichaltrigen Ingrid DJ Ingroove. Aus Monika, 80, DJ Lady Jane. Irmgard, 89, heißt jetzt DJ Ms Crazy Irma. Gesamtalter des Zehner-Kollektivs: 741 Jahre. Vorbilder für die Aktion sind rar, doch es gibt welche. Im März 2024 starb mit 102 Jahren die New Yorkerin Iris Apfel, Geschäftsfrau, Stilikone und wahrscheinlich älteste Influencerin des Planeten (drei Millionen Follower). Das Role Model schlechthin für Frauen, die sich nicht damit abfinden wollen, im höheren Alter nur noch die Blumen auf der Fensterbank zu gießen. Dass im Rentenalter auch eine DJ-Karriere möglich ist, zeigt die 85-jährige Polin Vika, eine in den Warschauer Clubs gefeierte DJ-Ikone, über deren Leben im Januar dieses Jahres ein Film bei uns in die Kinos kam. Titel: „Vika!“ Darin sagt die Hauptdarstellerin: „Ich will keine Seniorin sein, die wie eine Geranie auf dem Fensterbrett hockt. Ich will zeigen, dass man auch anders leben kann.“ Fern von gesellschaftlichen Konventionen. Frei von den Fesseln des Alters. „Man kann vor dem Alter nicht fliehen. Aber man kann es als etwas Schönes zeigen“, sagt Vika. Lesen Sie auch Weltplus Artikel Partnersuche Ü60 „Ab 70 darf man im Laufe des dritten, vierten Dates den Sex thematisieren“ Es gibt kein Gesetz, das älteren Frauen einen grauen Kurzhaarschnitt vorschreibt oder beigefarbene Funktionskleidung. Und keine muss ihre ganze Zeit mit dem Dauerglotzen von Quizshows verbringen. In ihrem 2024 erschienen Buch „Lass uns noch mal los“ macht die Schriftstellerin Susanne Matthiessen auf die Schwierigkeit älterer Frauen aufmerksam, ihre Rolle jenseits der Klischees zu finden. So gebe es für ein alternatives Leben im Alter kaum Vorbilder für Frauen. Ob Feiern, Flirten, flotte Autos – Männer würden sich dagegen eher herausnehmen, das zu machen, worauf sie Lust hätten. Und zwar so lange sie können und wollen. Eine der Frauen, die in Köln ihre Premiere am DJ-Pult erlebte, war die 71-jährige Edeltraud Stecher-Breckner. Als sie den Aufruf las, habe sie „keine Sekunde überlegt“, erzählt die Kölnerin. „Das war das, wovon ich immer geträumt habe – auch wenn ich keine Ahnung hatte, dass ich davon träumte“, fügt sie lachend hinzu. Die frühere Sozialarbeiterin geht nach eigenen Worten gern in Konzerte, besucht Clubs und kann nahezu jeder Musikrichtung etwas abgewinnen, ausgenommen Free Jazz und Heavy Metal. Wie es sich anfühlte, bei der Party am DJ-Pult zu stehen? „Ich dachte: Wow! Wie geil ist das denn? Eine unglaubliche Freude!“ Solche Erfahrungen kämen im Leben von Frauen über 70 kaum vor. Warum? „Das frage ich mich auch“, sagt sie. Lesen Sie auch Weltplus Artikel Nachtleben-Studie „Diskutieren? Auf keinen Fall!“ – Nach diesen Kriterien entscheiden Türsteher