Die Aufklärung einer Katastrophe kann als Sujet einer Fernsehserie ebenso spannend sein wie ein Krimi. Man denke etwa an die finnische Serie „Seconds“. Sie nahm sich eines Bahnunglücks an und ging wirklich alles durch, von den ersten Spuren am ausgebrannten Ort des Geschehens bis zur Software, die den reibungslosen Betrieb von Eisenbahnen gewährleisten soll – klug geschrieben, gut gespielt und dicht inszeniert. Ein echtes Highlight der ARD-Mediathek. Auf Arte läuft nun eine französische Serie, die ähnlich heißt – „Nur 37 Sekunden“ –, und ebenfalls von einem Unglück erzählt. In sechs Episoden untersucht sie den Untergang eines bretonischen Kutters in den Gewässern vor Cornwall. Wobei es in diesem Fall eine wahre Vorlage gibt: Am 15. Januar 2004 sank im Ärmelkanal die „Bugaled Breizh“ aus der Nähe von Brest. Die Umstände des Untergangs des Fischkutters waren außergewöhnlich. Das Wetter war kein Problem, die Mannschaft erfahren. Fischer in der Nähe, die auf den Notruf reagierten, fanden weder das Schiff noch Überlebende auf Rettungsinseln. Alles lief wohl wahnsinnig schnell. Und in der Nähe wurde ein U-Boot gesichtet. Kein russisches diesmal, sondern eines der NATO. Große Erwartungen, dramatischer Zoom Die Serie beginnt mit Bildern eines Gerichtsverfahrens, das im Herbst 2021 in London stattfand. Die Anwesenden rücken ihre Corona-Masken zurecht, der Richter kündigt wochenlange Befragungen an. Große Erwartungen, dramatischer Zoom. Und schon sind wir mit fünf Fischern in gelbem Ölzeug, Männern wie Tristan (Victor Le Blond) und Artus (Yann Trégouët), an Bord der „Bugaled Breizh“, 17 Jahre zuvor. Sie haben vor Frankreich keine Fische gefunden und entscheiden sich, ihr Glück in vielversprechenderen Gewässern bei Großbritannien zu suchen. Dann wieder ein Sprung: Eine Kirche, so rappelvoll, wie man Kirchen heute gar nicht mehr kennt. Der Gottesdienst läuft, ein Falter zappelt am Fenster und kommt nicht ins Freie – ein beklemmender Hinweis auf das Schicksal der Seeleute. Den stämmigen Alan (Marc Bodnar), mit grauem Bart als oberster Fischer im Ort erkennbar, reißt eine SMS aus den Chorälen. Er rast zum Hafen und versucht mit Loïc (Jonathan Thurnbull), dem Eigentümer des Schiffs und Freund der Besatzung, Kontakt zum Kapitän zu bekommen. Auch die Frauen der Fischer eilen herbei. Video Trailer„Nur 37 Sekunden“ Das Drehbuch von Anne Landoi und Sophie Kovess-Brun wirft uns viele Gesichter auf einmal entgegen. Einige hebt es hervor – wie die patente Marie (Nina Meurisse), eine junge Mutter, die einen Arbeitsinvaliden heiraten will und dann auch formal die Schwägerin des Fischers Tristan wäre. Wenn man so will, ist das hier ihre Geschichte, auch mit Beziehungsproblemen. Ein Vorspann betont, dass nicht alles in „Nur 37 Sekunden“ dem wirklichen Geschehen entspricht. Wenig später sitzt allen der Schock in den Gliedern: Die „Bugaled Breizh“ ist gesunken, zwei Leichen wurden gefunden, die offiziellen Stellen untersuchen nicht intensiver als unbedingt nötig. Aber sie ermitteln, immerhin, und warten sogar mit der These auf, der Kutter könnte mit einem anderen Fahrzeug zusammengestoßen sein. Das gesichtete U-Boot sei „auf keinen Fall“ in die Sache verstrickt. Vielleicht ein philippinischer Frachter. Ein erstes Verfahren zeichnet sich ab, bei dem der Kutterbesitzer Loïc als Nebenkläger auftreten will; seufzend setzt er sich mit einem Anwalt zusammen, der die Welt der Fischer niemals verstehen wird. Die Regisseurin setzt voll auf Geschichte und Figuren Vor allem folgt die Serie nun aber Marie, die Aktivisten-Qualitäten entwickelt, und dem tapsigen Anwalt Christophe Costil, den die Hinterbliebenen der Seeleute anheuern. Gespielt wird er von Mathieu Demy, den man etwa als Teenager in „Die Zeit mit Julien“, dem 1988 erschienenen Film seiner berühmten Mutter Agnès Varda, der Grande Dame der Nouvelle Vague, in Erinnerung hat. Mit Serien amerikanischer oder skandinavischer Machart ist „Nur 37 Sekunden“ nicht zu vergleichen. Die Regisseurin Laure de Butler setzt voll auf die Geschichte und die Figuren in ihren Trauerbewältigungsphasen, kunstfertig geschürte Atmosphäre lässt sie nicht zu. So dauert es, bis man sich auf die vielen Charaktere einlässt, und in der Synchronfassung, die über den reizvollen Wechsel zum Englischen in den Gerichtsszenen von 2021 hinweg bügelt, noch etwas länger. Zum Ende hin wird die Serie immer besser, sensibel im Kleinen und anregend im Großpolitischen, das trotz der Beteuerungen des Militärs zunehmend die Gedanken beherrscht. Ärgerlich ist nur der Titel. Im französischen Original lautet er „37 Secondes“, in der deutschen Version „Nur 37 Sekunden“. Von der finnischen Serie „Seconds“ kann man das gerade noch trennen, doch dass der Titel sich von dem eines deutschen Gerichtsdramas um eine Vergewaltigung (ARD) allein durch das hinzugefügte „Nur“ unterscheidet, ist für beide Serien misslich.