KI-Agenten im Onlinehandel: Beginnt Amazon seine nächste Evolutionsstufe?

Über eine Funktion namens „Buy for Me“ („Kauf für mich“) können Nutzer über Amazon Produkte auf Websites von Drittanbietern kaufen – ohne Amazon jemals zu verlassen. Vielleicht nur ein weiteres Experiment der Amerikaner mit kurzer Halbwertzeit, bei Erfolg könnte es aber weitreichenden Folgen für die Machtverhältnisse im Onlinehandel haben. Agenten übernehmen Im Hintergrund des Services arbeitet agentische KI – also Systeme, die nicht nur Empfehlungen aussprechen, sondern eigenständig Entscheidungen treffen und komplexe Aufgaben ausführen. Auf Wunsch übernimmt Amazons KI das Shopping-Ruder: Sie navigiert zur externen Website, wählt Größe und Farbe aus, gibt Adressdaten ein und schließt den Kauf ab – stellvertretend für den Menschen. Eine unsichtbare digitale Assistenz, die rund um die Uhr verfügbar ist und dabei aus jedem Kaufprozess lernt. Die Plattform der Plattformen Amazon verfolgt seit Jahren das Ziel, seine Marktposition über den eigenen Marktplatz hinaus auszubauen. Mit „Buy for Me“ könnte Amazon ein wichtiger Schritt in Richtung Plattform der Plattformen gelingen – eine digitale Drehscheibe, die auch Käufe außerhalb der eigenen Infrastruktur vermittelt und kontrolliert. Amazon wird zum digitalen Concierge, zur universellen Einkaufsschaltstelle, zum „Interface des Handels“. Die Folge: Der Konzern bindet Kunden noch enger an sich, erfüllt jeden Wunsch – sogar, wenn das Produkt gar nicht bei Amazon verfügbar ist. Und der Händler verliert dadurch sogar im eigenen Onlineshop den direkten Kontakt zum Kunden, seine Website wird zur bloßen Durchgangsstation für einen algorithmischen Agenten. Aber auch für Google und Marken dürfte dies im Erfolgsfall eine Herausforderung werden. Wenn Produktsuchen nicht nur bei Amazon beginnen, sondern nun auch bei Amazon enden – inklusive allem, was dazwischen liegt – verliert Google Shopping an Bedeutung. Und Marken, die sich vielleicht bewusst aus dem Amazon-Ökosystem zurückgezogen haben, würden unfreiwillig wieder hineingezogen – jetzt aber mit noch weniger Kontrolle über Daten und Kundenbindung. Komfort gegen Kontrolle Für viele Konsumenten dürfte der Service verlockend klingen: keine lästigen Eingaben, kein Plattformwechsel, keine Passwörter. Alles erledigt die KI – effizient, passgenau, rund um die Uhr. Ein Shopping-Butler als Service einer Firma mit einer der besten Kundenservice-Reputationen im Markt und einer, deren Kundenbindungsprogramm die Hälfte aller Haushalte in Deutschland ihre Daten bereits anvertrauen. Noch ist Amazons assistentengestütztes „Buy for Me“ nur ein Pilotprojekt. Amazon Natürlich stellen sich Fragen nach Datenhoheit, Rechtssicherheit und Transparenz: Wer haftet bei Fehlkäufen? Wie sind Rückgabe oder Garantie geregelt, wenn der Kauf nicht von einem Menschen, sondern von einer Maschine ausgelöst wurde? Und dürfen Websites überhaupt automatisiert durchsucht und genutzt werden? Viele allgemeine Geschäftsbedingungen schließen dies explizit aus. Diese Grauzonen sind nicht trivial, denn Amazons Agent ist kein „Crawling Bot“, sondern ein autonom handelnder Akteur – mit rechtlich unklarer Rolle. Viel Hoffnung sollte das dem Markt aber nicht machen, denn Amazon dürfte dazu Antworten finden, wenn seine Kunden das wollen. Und auf allzu viel Vernunft bei uns Konsumenten sollte man auch nicht setzen – solange die gefühlten Vorteile überwiegen, zeigen sich bekanntlich nicht wenige beim Kleingedruckten flexibel. Der Aufstieg der Agenten-Ökonomie KI-Agenten sind keine neue Idee, und Amazon ist damit nicht allein, lediglich schneller. Die meisten großen Techunternehmen dürften an entsprechenden Ansätzen arbeiten, aber auch Start-ups wie Cognosys oder AutoGPT entwickeln KI-Agenten, die Flüge buchen, Finanzen verwalten oder eben Einkäufe erledigen. Ein neues Paradigma könnte entstehen: die Agenten-Ökonomie – in der nicht Menschen, sondern Software-Agenten die zentralen Akteure sind. Findet das Anklang bei Kunden, verändert es auch den Wettbewerb. Die Frage wird dann nicht mehr nur sein, welche Website für Menschen die beste ist – sondern auch, welche für KI-Agenten am leichtesten nutzbar und konvertierbar ist. Neue Metriken wie „Agentic Compatibility Score“ oder „Agentic Checkout Rate“ werden zu den bisherigen Kernmetriken im Handel wie Conversion Rate oder Verweildauer hinzukommen. Wird ein mächtiger Gatekeeper noch mächtiger? Noch ist Amazons „Buy for Me“ nur ein Pilot. Doch bei einer breiten Einführung und Nutzung würde Amazon nicht nur Produkte verkaufen, sondern den gesamten Kaufprozess kontrollieren – auch bei Angeboten außerhalb der eigenen Plattform. Damit entstünde eine neue, kaum regulierte Form der Infrastrukturmacht eines Unternehmens, das mit einem weltweiten Gesamtumsatz von mehr als 640 Milliarden US-Dollar bereits den Handelsprimus Walmart überholt haben dürfte und laut IFH allein mit seinen deutschen Handelsaktivitäten einen Marktanteil von mehr als 65 Prozent am gesamten deutschen E-Commerce hat. Für die Wettbewerbsbehörden dürfte dies eine entsprechend rote Flagge sein. Denn wer Transaktionen vermittelt, Daten speichert und Kaufentscheidungen beeinflusst, ohne selbst Verkäufer zu sein, nimmt im Onlinehandel eine Systemrolle ein. Das könnte nicht nur Wettbewerber, sondern auch Regulierer auf den Plan rufen – und das wiederum kann in Zeiten neuer transatlantischer Beziehungen schnell auch wirtschaftspolitische Relevanz erlangen. Amazons neue KI kauft nicht nur Turnschuhe für faule Kunden. Sie könnte dabei sein, die Spielregeln des digitalen Handels neu zu schreiben.