Immer neue Marken und immer neue Modelle auf der größten Automesse der Welt: Jedes fünfte der fast 1500 ausgestellten Fahrzeuge auf der Shanghai Auto Show (23. April bis 2. Mai) hat einen Batterieantrieb. In China ist der Wettbewerb beinhart. Aber auch in Europa stehe ein „furchtbarer Kampf“ bevor, sagte der damalige Stellantis-Chef Carlos Tavares im vergangenen Jahr voraus. Der italienisch-französische Konzern (unter anderem Fiat, Peugeot, Citroën) hatte sich bereits 2023 mit Leapmotor verbündet. Bis Ende dieses Jahres sollen die neuen Modelle aus China bei 200 Stellantis-Händlern erhältlich sein. Leapmotor? In München und Umgebung kennt fast niemand die No-Name-Marke. Wo immer der schwarze C10 auftaucht, erntet er fragende, aber keineswegs abschätzige Blicke. Das gefällig gestylte SUV ist ein Hingucker, obwohl es sich auf den ersten Blick kaum von einem Nio oder BYD unterscheidet. Das gilt auch auf den zweiten Blick, denn der nüchterne Innenraum mit dem großen Zentral-Display erinnert an Tesla – genau wie bei den Modellen der anderen beiden Marken. Wichtiger erscheint eine weitere Parallele zum großen Vorbild aus den USA: Wie Tesla entwickeln auch die chinesischen Newcomer alle relevanten Technologien selbst. Trotz der Budget-Preise will Leapmotor also keine Billigmarke sein, sondern ein Trendsetter. Kann das gutgehen bei einem Start-up, das erst zehn Jahre Erfahrung hat? Auch Tesla hat seinen Kunden jahrelang teils unausgereifte Technik angedreht, Fehler aber zügig korrigiert. Während die Absatzzahlen der Amerikaner einbrechen, kann Leapmotor mit ersten Erfolgen punkten: Seit der Markteinführung im vergangenen Herbst hat sich der C10 weltweit bereits 100 000-mal verkauft. Zum Vergleich: Polestar, die Schwestermarke von Volvo, konnte 2024 mit mehreren Modellen nicht einmal halb so viele Fahrzeuge absetzen. Im ersten Quartal taten sich die Chinesen mit 673 verkauften Fahrzeugen zwar noch schwer in Deutschland, doch selbst der weltweite Elektro-Marktführer BYD konnte seit Jahresanfang hierzulande nur knapp 1000 reine Batterieautos losschlagen. Unterschätzen solle man die Offensive aus dem Fernen Osten jedenfalls nicht: Unter den Top Ten der innovativsten Autokonzerne befanden sich im vergangenen Jahr erstmals fünf chinesische Firmen, ermittelte das Center of Automotive Management (CAM). Ganz oben auf dem Siegertreppchen stand zwar BMW, direkt dahinter folgten jedoch Geely und Saic. Ein weiterer Hinweis auf den Umbruch, vor dem Carlos Tavares in dramatischen Worten gewarnt hat. Modernes Familien-SUV mit E-Antrieb zum Budget-Preis: Das schafft nicht mal Dacia Die Frage ist, wo man eine neue Marke wie Leapmotor einordnen soll: Während BYD und Nio mit ihren Topmodellen fast das Preisniveau der deutschen Premiummarken erreichen, spielt das neue China-SUV in einer anderen Liga. Vollausgestattet kostet der C10 mit 84 kWh Batteriekapazität 39 100 Euro. Das sind etwa 25 000 Euro weniger als ein BMW iX3 ohne jegliche Extras. Schon klar, dass die wenigsten Stammkunden der Münchner auf einen unbekannten Budget-Chinesen umsatteln werden. Trotzdem ist der Vergleich aufschlussreich: Der C10 ist mit 4,74 Meter Länge und 1,90 Meter Breite so groß wie ein iX3. Mit bequemen Kunstledersitzen, einem verschwenderischen Platzangebot selbst in der zweiten Reihe, einem riesigen Glasdach und einem hochwertigen Soundsystem braucht sich das C10-Interieur nicht vor der karg ausgestatteten Basisversion des BMW-SUVs zu verstecken. Auch die Hinterbänkler sitzen beim C10 auf der Sonnenseite: nicht nur wegen des großen Glasdachs, sondern auch aufgrund der bequemen Sitze und der üppigen Kniefreiheit. (Foto: Leapmotor) Der Leapmotor ist mit 160 kW (218 PS) etwas zahmer motorisiert als der BMW, beide Modelle kommen aber mit jeweils gut 400 Kilometer vergleichbar weit mit einer Batterieladung. Der C10 fährt sich nicht so sportlich um die Kurven und federt etwas harscher auf Bodenwellen. Was nicht zuletzt auf das Konto der 20 Zoll großen Räder des Testwagens geht. Insgesamt bietet der China-Hochsitz jedoch einen ordentlichen Langstreckenkomfort und gibt sich mit einem Testverbrauch von 18 kWh auf 100 Kilometer zufrieden. Die Entwickler sind auf ihren effizienten Antrieb genauso stolz wie auf eine Armada von Assistenzsystemen und das hervorragende Crashtest-Ergebnis mit fünf von fünf möglichen Sternen. Nicht nur damit setzt sich der C10 deutlich von Dacias Lowtech-Modellen ab. Der Akustik-Komfort des C10 soll sogar noch besser sein als bei BMW: „Wir haben im C10 extrem leise Elektromotoren und drücken damit den Geräuschpegel auf 76 db(A)“, erklärte Leapmotor-Produktplaner Zhong Tianyue dem Online-Portal Edison: „Das ist leiser als die deutschen Premiummodelle, auch die von BMW.“ Aber was hilft die beste Lärmdämpfung, wenn das Warngebimmel niemals stoppt? Dingdong: Kurz nach Fahrtbeginn schlägt der Müdigkeitswarner eine Pause vor. Klingeling: Das Auto fährt zwei km/h zu schnell. Gong: Der Spurhalteassistent schreckt wieder einmal vor einer Fahrbahnmarkierung zurück. Gibt es überambitionierte Autos? Der nerdige Leapmotor sollte etwas cooler sein – und die Heizung etwas wärmer Die Dauerbeschallung nervt derart, dass man alle Helferlein schließlich abschaltet – was wenig hilft, weil die Chinesen einen Notspurhalteassistenten in Reserve haben, der ständig Alarm schlägt. Ist der C10 nur übermotiviert oder schon übergriffig und will seinen Fahrer umerziehen? Beim Nachdenken über die kulturellen Unterschiede zwischen Europa und Asien kommt einem noch eine andere Idee: Womöglich ist das Hosenträger-plus-Gürtel-plus-Rettungsring-Sicherheitssystem nur ein Bluff: Auch Tesla hat mehr versprochen, als der Autopilot halten konnte. Dass Leapmotor ebenfalls die nötige Entwicklungserfahrung fehlt, zeigen eklatante Schwächen im Praxistest. Die Türen lassen sich erst öffnen, wenn eine ID-Karte an den Außenspiegel auf der Fahrerseite gehalten wird. (Foto: Leapmotor) Im Münchner Berufsverkehr patzt der C10 jedenfalls auffallend häufig. Beim dynamischen Stop-and-Go übersieht der Abstandstempomat wiederholt einen stehenden Vordermann, bremst zu spät und fordert den Fahrer in letzter Sekunde zur rettenden Übernahme auf. Auch der Lenkassistent kann benachbarte Autos nicht immer den richtigen Fahrspuren zuordnen. Besonders in Tunneln bleibt er ängstlich zurück, statt einen langsameren Wagen zu überholen. Erst ein Blick auf das Display zeigt, dass er den anderen als Hindernis halb vor sich wähnt. Bei Testwagen kommt es immer wieder vor, dass sie den Fahrer mit Phantombremsungen erschrecken. Der Leapmotor stellt beim Halluzinieren jedoch einen neuen Rekord auf. Besonders unwohl scheint sich der C10 zwischen Allee-Bäumen zu fühlen. Wie ein moderner Don Quichotte sieht er in jeder der 200 Jahre alten Eichen einen imaginären Gegner. Kaum merklich wird das SUV immer wieder leicht beschleunigt und eingebremst. Das Ruckeln erinnert an einen übervorsichtigen Fahranfänger oder an ein Ruderboot bei Wellengang. Wohl dem, der nicht seekrank wird. Nicht minder ärgerlich ist die Donquichotterie bei der Begegnung mit einem Fahrradfahrer, der sich von der Seite nähert. Obwohl er in gebührendem Abstand abbiegt, steigt das Auto voll in die Eisen. Bei der völlig sinnfreien Notbremsung mit Warnblinkanlage hätte ein Hintermann den Auffahrunfall kaum vermeiden können. Dabei wäre es ein Leichtes, solche Macken per Software-Update zumindest zu entschärfen. Auf ein Einsehen der Chinesen muss man auch beim Klimakomfort hoffen. Denn der C10 wird einfach nicht warm. Der Leapmotor ist größer als ein VW ID.4, vor allem hat er viel mehr Ausstattung serienmäßig, die bei den deutschen Herstellern extra bezahlt werden muss. (Foto: Leapmotor) Mütze, Schal, Ski-Unterwäsche – was man so braucht beim morgendlichen Pendeln ins Büro. Oder doch lieber die Klimaanlage auf 24 Grad einstellen? Der C10 aktiviert zwar automatisch die Sitz- und Lenkradheizung, ignoriert aber alle weiteren Wünsche der Passagiere. Offensichtlich hat das SUV bei 70 Kilometer Restreichweite die Heizung abgeschaltet – ohne zu fragen oder darauf hinzuweisen. Kein Touchen auf dem Klima-Menü hilft: Nach einer Stunde Fahrtzeit ist es im Auto immer noch kalt. Auch darin gleicht der Leapmotor den Tesla-Modellen aus den Pioniertagen der E-Mobilität. Das größte Manko des neuen E-Autos ist aber die zögerliche Stromzufuhr: An der 11-kW-Wallbox plant der Testwagen mehr als 30 Stunden ein, um die große Batterie zu laden (20 bis 100 Prozent). Nach acht Stunden Ladezeit sind lediglich 100 Kilometer Reichweite hinzugekommen. Auch am DC-Schnelllader ist bei 84 kW Höchstleistung viel Geduld gefragt. Leapmotor verspricht jedoch baldige Besserung: In China gibt es den C11 bereits als 800-Volt-Variante; hierzulande soll der Lade-Turbo Ende dieses Jahres lieferbar sein. Dann würde der C10 mit dem Smart#5 gleichziehen und ihn im Preis vielleicht sogar unterbieten. In Deutschland gibt es das große Smart-SUV mit 800-Volt-Technik und 100-kWh-Akku für 50 900 Euro (5000 Euro Aufpreis gegenüber der Basisversion mit 400 Volt). Derart energiegeladen könnte der Leapmotor dann ja morgens auch mal die Heizung aktivieren. Technische Daten: Leapmotor C10 Design Systemleistung: 160 kW/218 PS Energieverbrauch: 18,5 kWh /100 km Batteriekapazität: 84 kWh Reichweite: 425 bis 569 km DC-Schnellladen: bis 84 kW Kofferraumvolumen: 400 Liter bis 1375 Liter Preis: ab 37 600 Euro Hinweis der Redaktion: Ein Teil der vorgestellten Produkte wurde der Redaktion von den Herstellern zu Testzwecken zur Verfügung gestellt und/oder auf Reisen präsentiert, zu denen Journalisten eingeladen wurden.