Noel Mikaelian: Der absurde Leidensweg des vergessenen deutschen Box-Champions

Ein Boxweltmeister, der seinen Titel nie im Ring, sondern aufgrund der Machenschaften von Promoter-Pate Don King und eines korrupten Weltverbandes verliert. Das ist die Geschichte von Noel Mikaelian. Doch plötzlich bietet sich dem vergessenen deutschen Box-Champion die Chance, alles wieder zu drehen. Noel Mikaelian schien auf den Spuren von Graciano Rocchigiani. Wie die 2018 verstorbene deutsche Box-Ikone hatte Mikaelian nach vielen Kämpfen und dubiosen Niederlagen zwar den Weltmeister-Titel gewonnen. Wie Rocchigiani knöpfte ihm der Weltverband WBC den Gürtel aber wieder ab. "Rocky" ließ sich "dit" seinerzeit nicht bieten. Der Berliner verklagte die korrupte Organisation, bekam im Jahr 2002 nach einem aufreibenden, nervenzehrenden Prozess Recht - und 31 Millionen Dollar Schadenersatz. Vier Jahre vorher hatte der World Boxing Council Rocchigiani die WM-Krone im Halbschwergewicht nach einem Sieg über den Amerikaner Michael Nunn einfach weggenommen und Superstar Roy Jones Jr. aufs Haupt gesetzt. Die Funktionäre betrogen "Grace" nicht nur um den Titel, sie brachten ihn um weitere lukrative Kämpfe. "Das, was man mit mir gemacht hat, ist vielleicht noch schlimmer", sagte Mikaelian im Februar dem Fachblatt "Boxsport". Der 34-Jährige hielt sich den "Rocky-Rechtsweg" damals ausdrücklich offen. Und wer weiß: Vielleicht würde Mikaelian jetzt tatsächlich im Gerichtssaal um Gerechtigkeit kämpfen, statt am 3. Mai in Riad auf großer Box-Bühne, hätte es das Schicksal nicht gut mit ihm gemeint. "Karma", sagt der vergessene deutsche Weltmeister im Interview mit sport.de lächelnd. Doch der Reihe nach. Niederlage gegen Briedis ist der Korruption im Verband geschuldet Ende 2023 ist Noel Mikaelian ganz oben. In Miami schlägt er Ilunga Makabu aus dem Kongo in der dritten Runde durch Technischen K.o. und erobert den WBC-Titel im Cruisergewicht. Als erster Deutscher seit Max Schmeling 1930 gelingt es Mikaelian, sich in den USA zum Weltmeister zu krönen. Ein Meilenstein und späte Genugtuung für den Mann aus Hamburg. Davor hatten Promoter und Punktrichter Mikaelian bei seinen wichtigsten Kämpfen übers Ohr gehauen: 2017 unterlag er in Polen Lokalmatador Krzysztof Wlodarczyk kontrovers, ein Jahr später dem Letten Mairis Briedis dubios nach Punkten. Nach den Niederlagen im Rahmen der hochdotierten World Boxing Super Series fiel der Deutsche in ein Loch: Sinnkrise, mentale Probleme. Mikaelian (l.) bei der Niederlage gegen Wlodarczyk. (Foto: imago/ZUMA Press) Im Jahr 2019 beschloss Mikaelian einen Neustart. Er trennte sich von seinem langjährigen Promoter Sauerland und ließ sich in Miami nieder, um die Karriere von den USA aus in die eigene Hand zu nehmen. Gegen Briedis sei er der Korruption des WBC unterlegen, sagt Mikaelian: "Ich habe das später herausgefunden, weil ich mich mit den Verbänden ja angefreundet habe, da hingereist bin und observiert habe, wie das alles funktioniert." Trotz der Erkenntnis sei er mit einer "Friedensflagge" zum WBC gegangen, erzählt der Profiboxer. Vier Jahre habe es gedauert, die Rangliste des Verbandes wieder hochzuklettern und in Reichweite eines Titelkampfes zu kommen. "Und den habe ich nur bekommen, weil mir der WBC versichert hat: Wenn du bei Don King unterschreibst, ist das die einzige Möglichkeit, weil er diesen Titel kontrolliert." So habe er sich 2022 "unter Druck" mit King eingelassen. Don King verschafft Mikaelian eine große Chance Don King. Der berüchtigte Promoter mischt seit dem "Rumble in the Jungle 1974" zwischen Muhammad Ali und George Foreman im Preiskampf mit, hatte das Big Business einst fest im Griff und zerstörte ganze Karrieren wie die von Box-Legende Mike Tyson. "Ich habe fast schon meine Seele verkauft, um diesen WM-Kampf zu bekommen", erinnert sich Mikaelian an den Deal mit dem mittlerweile 93-jährigen. Immerhin: Die Signatur bescherte ihm tatsächlich die WM-Chance. Am 4. November 2023 biss Mikaelian zu und knallte Makabu (einem anderen King-Boxer) so lange seine Rechte vor den Latz, bis der Ringrichter ihn zum Sieger erklärte. Fast zehn Jahre nach Marco Huck hatte Box-Deutschland wieder einen Champion im Cruisergewicht. Noel Mikaelian winkte ein weltmeisterliches Boxer-Leben. Es kam anders. Don King im Jahr 2018 bei einer Veranstaltung in Hamburg. (Foto: imago images/Torsten Helmke) "Jeder, der Weltmeister wird oder das anstrebt, tut das, um sein Leben umzukrempeln, und wenn man Weltmeister wird, erhöht sich der Lebensstandard normal. Ich bin Weltmeister geworden und der Lebensstandard ist paradoxerweise runtergegangen", sagt Mikaelian, ohne verbittert zu klingen. Im Gegenteil: der 34-Jährige lacht sogar, als er die jüngsten anderthalb Jahre seines Lebens Revue passieren lässt. Ende 2023 bestimmt der WBC auf seinem jährlichen Kongress Ryan Rozicki als Pflichtherausforderer des Weltmeisters. "Nicht allzu stark, boxerisch ein einfacher Gegner", stuft Mikaelian den Kanadier ein. Rozicky soll eine Durchgangsstation sein, der Deutsche will im Limit bis 90,72 Kilogramm eigentlich die Konkurrenz-Champions der anderen Verbände vor die Fäuste: Jai Opetaia (Australien/IBF) und Gilberto Ramirez (Mexiko/WBA/WBO). Erst April, dann Mai, dann Juni und schließlich ein Cut über dem Auge "Wir haben auch schon mit beiden Teams gesprochen, der WBC hat mir aber leider keine Erlaubnis gegeben, um eine Vereinigung mit Ramirez oder Opetaia anzustreben, was sehr schade war", so Mikaelian. Im Januar habe ihn Don King angerufen und mitgeteilt, dass der Kampf gegen Rozicki in Miami stattfinde. "Da war ich noch in Deutschland und bin dann sofort nach Florida geflogen, um mein Trainingslager zu starten. Ich habe den Kampf angenommen und für Mitte März unterschrieben." Das Duell findet nie statt. Dreimal sei der Kampf verschoben worden, erzählt Mikaelian: erst auf den 20. April, dann auf Ende Mai, schließlich auf den 7. Juni. "Beim letzten Mal wurde ich gar nicht mehr benachrichtigt, das hat mein Bruder Abel herausgefunden. Ich musste also mein Trainingscamp, das ich selbst bezahlt habe, immer wieder hinauszögern, hinauszögern, hinauszögern, umstrukturieren und mich mental immer neu einstellen." Dann schlägt das Pech zu. Zwei Wochen vor dem geplanten Juni-Kampf erleidet Mikaelian im Sparring einen Cut über dem Auge. Sechs Wochen Zwangspause. Das Gefecht wird in den Herbst verlegt. "Zuerst hieß es 14.9., also bin ich wieder direkt ins Training, dann hieß es 28.9. Zwei Wochen vor dem Kampf, da war ich beim Gewicht machen, um ein Vorab-Gewicht des WBC einzuhalten, bekam ich einen Anruf vom gegnerischen Team, dass der Kampf wegen mir abgesagt wurde, dass ich nicht kämpfen will", berichtet Mikaelian. Anruf bei Don King - doch die Starkstromlocke geht nicht ran. "Keiner aus seinem Team konnte mir was sagen. Die meinten sogar, dass er im Sterben liegt und die Veranstaltung nicht machen wird", verrät Mikaelian. Tatsächlich sagt Kings Firma schließlich den gesamten Kampfabend in Miami ab, weil der Boss wegen gesundheitlicher Probleme im Krankenhaus und nicht verfügbar ist. Ein einmaliger Vorgang. Über Don King kann Mikaelian nichts Gutes sagen "Das habe ich mir nicht bieten lassen, einen Anwalt engagiert und darum gebeten, aus dem Vertrag herauszukommen", erläutert Mikaelian. King habe die Vereinbarung gebrochen. "Ich hätte vier Kämpfe bekommen sollen, habe aber tatsächlich nur einen bekommen, den Weltmeisterschaftskampf gegen Makabu." Ein Rechtsstreit bahnt sich an. "Es ist sehr schwer, mit Don King zu arbeiten. Er ist noch alte Schule, das Boxgeschäft wird von ihm gehandhabt, wie es in den Achtzigern und Neunzigern war. Dieses Geschäftsmodell kann man heute nicht mehr durchziehen", sagt Mikaelian. "Ich wünschte, ich könnte etwas Gutes über ihn sagen. Eigentlich hat jeder Mensch gute und schlechte Seiten an sich. Aber ich sehe bei diesem Menschen leider nichts", beschreibt der Boxer Kings Charakter. "Er sieht uns Kämpfer als kleine Püppchen, die er sammelt und sich ins Regal packt und dann holt er sie ab und zu mal für einen Kampf raus. Er denkt, er besitzt sie. Er glaubt immer noch an Sklaverei." King verfüge über politisch "sehr gute Kontakte" zu den Weltverbänden, speziell dem WBC und der WBA. "Er regiert über diese Verbände wie über seine Kinder und behandelt die Kämpfer wie Sklaven." Kings Macht ist in den vergangenen Jahren allerdings geschrumpft. Turki Al-Sheikh und Saudi-Arabien geben im Preisboxen mittlerweile den Ton an. Dem alten Don bleibt, wenn überhaupt, eine Nebenrolle. "Damit kommt er nicht klar. Er wird links und rechts verklagt, ist laut Berichten in den Staaten drauf und dran, seine Firma zu verlieren", berichtet Mikaelian. Auch er droht King mit dem Gang vor Gericht, denn dieser denkt überhaupt nicht daran, ihn aus dem Vertrag zu entlassen. Im Büro des greisen Box-Paten kommt es zum Streit, Mikaelian und King brüllen sich an. Später einigt man sich, es nochmal irgendwie zu probieren. Auftritt World Boxing Council. "Das ist Korruption", sagt Mikaelian Auf dem WBC-Kongress in Mikaelians Heimatstadt Hamburg stufen die Funktionäre den Deutschen Ende 2024 zum "Champion in Recess" herunter. Weltmeister im Ruhestand - ein Titel, den es nur im Profiboxen gibt. "Angeblich, weil ich mit Don King im Rechtsstreit sei", liefert Mikaelian das Motiv seiner Entmachtung. "Ich habe den WBC-Präsidenten angerufen und gesagt, dass ich keinen Rechtsstreit anstrebe und meinen Anwalt zurückziehe, dass wir versuchen, das intern mit Don King zu klären. Die haben nicht darauf gehört." Stattdessen setzt der Weltverband Badou Jack wieder als "regulären" WBC-Weltmeister ein - obwohl der Schwede den Titel Anfang 2023 niedergelegt und seither nicht mal mehr geboxt hat. Die Funktionäre verpflichten Jack dazu, einen WM-Gürtel zu verteidigen, den er gar nicht mehr verteidigen wollte. Und gegen wen? Richtig: Ryan Rozicki. Mikaelian wird mit dem Versprechen hingehalten, gegen den Sieger boxen zu dürfen. "Das ist Korruption", sagt Mikaelian, der ein paar Semester Jura in seiner Vita vorweisen kann ("auch wenn es lange her ist"). Ein Boxverband, der einen Weltmeister nach Gutdünken entthront, ohne, dass dieser seine Krone im Ring verliert - Noel Mikaelian fällt der gleichen Willkür, den gleichen Machenschaften zum Opfer wie einst Graciano Rocchigiani. Doch er hat Glück. Beziehungsweise: "Karma." Auf einer Karte mit Canelo Álvarez Dieses Mal verletzt sich Ryan Rozicki und sagt den für 3. Mai in Riad angesetzten Kampf gegen Badou Jack drei Wochen vor dem Gong ab. Die WBC-Leute und Matchmaker haben kaum eine andere Wahl, als bei Mikaelian anzuklopfen. Der steht ohnehin für einen Aufbaukampf im Training und sagt sofort zu. "Ich reise nach Riad, um für Gerechtigkeit zu sorgen", betont Mikaelian und lässt den Blick kurz zurückschweifen. "So viele Kämpfe und Vorbereitungen, die ich angefangen, aber nicht zu Ende bringen konnte. Ich bin aber der legitime WBC-Weltmeister und verteidige nur, was mir gehört." Mehr noch: Mikaelian bekommt am Wochenende die Chance, auf großer Bühne zu glänzen. Er kämpft im Vorprogramm von Superstar Canelo Álvarez. "Auf einer Karte mit Canelo zu sein, ist einmalig. Er ist momentan das Gesicht des Boxens und ein cooler Typ, wahrscheinlich der Boxer schlechthin", sagt Mikaelian. "Da freue ich mich drauf und bin auch aufgeregt. Das ist eine gute Chance." Eine, die das Potenzial hat, Mikaelians Karriere wieder nach oben zu schießen. "Jack ist schnell, weil er aus einer leichteren Gewichtsklasse kommt. Er ist jetzt aber auch schon etwas älter, hat seit zwei Jahren nicht mehr geboxt", ordnet Mikaelian seine Aufgabe ein. Das größte Plus des 41-Jährigen sei dessen Erfahrung. "Er hat einen orthodoxen, ausgewogenen Stil. Ich würde nicht sagen, dass er unbedingt ein Puncher ist oder nur gut auf den Beinen oder schnell. Er hat von allem ein bisschen was. Darauf werde ich mich mit meinem Trainer speziell die letzte Woche einstellen und die Strategie ausrichten." Es geht um große Kämpfe, nicht um Titel Mikaelian hat sich als unbequemer, schwer zu erwischender Konterboxer einen Namen gemacht. Bezüglich seines Kampfplans lässt er sich wenig entlocken. Nur so viel: "Als Underdog glaube ich nicht, dass ich auf den Punktzetteln irgendwie gewinnen kann, so wie ich das Boxen kenne". Vor kurzem hat sich Mikaelian den Kampfnamen "The Dark Horse" verpasst. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? In seiner Ecke hat er mit Don Charles einen Trainer, der für Offensivboxen steht. Der Brite betreut auch Schwergewichts-Champion Daniel Dubois. "Alles, was in meiner Macht steht, ist gut zu trainieren, mich gut vorzubereiten auf die zwölf Runden, Leistung zu bringen", sagt der 34-Jährige: "Was auf den Punkzetteln später passiert, darauf habe ich leider keinen Einfluss. Ich glaube, da hat Jack Vorteile. So ist das Boxen eben." Immerhin: Unter der Regie des saudischen Box-Moguls Turki Al-Sheikh sind Skandalurteile bisher ausgeblieben. Überzeugt Mikaelian in Riad, könnten ihm viele Türen offenstehen. "Wenn ich Badou Jack schlage, hoffe ich, dass ich einen Vereinigungskampf bekomme, auch in Saudi-Arabien gegen Ramirez oder Opetaia, und dass dann auch wieder ein bisschen Action in die Gewichtsklasse kommt", sagt er. Große Kämpfe seien das Ziel, nicht irgendwelche Verbands-Titel. "Ich hatte jetzt schon den besten WM-Gürtel, den grünen WBC-Gürtel, den Ali hatte, den George Foreman hatte, den alle Großen hatten - der hängt bei mir auch nur rum, verstaubt und ist auch nicht aus Gold. Von daher jucken mich die Gürtel gar nicht mehr." Noel Mikaelian geht es nach eineinhalb verlorenen Boxer-Jahren um etwas anderes. "Mich jucken die Bühnen, das Sponsoring und die Qualität der Kämpfe, die ich bekommen kann, um meinen Lebensstandard zu verbessern."