Fabian Wohlgemuth ist die ­Ruhe selbst. Nach guten wie nach schlechten Spielen, selbst nach solchen, die einen Rückschlag bedeuten für seinen Klub, den VfB Stuttgart. Wie am vergangenen Samstag, nach der 0:1-Niederlage bei der Eintracht aus Frankfurt. Da stand Wohlgemuth vor den Reportern, suchte nach Erklärungen für die Stuttgarter Niederlage, redete aber immer noch bedacht, wirkte geduldig. Ein Ruhepol in der Stuttgarter Krise. Der 45 Jahre alte Sportvorstand ist beim VfB Stuttgart neben dem Vorstandsvorsitzenden Alexander Wehrle und Trainer Sebastian Hoeneß so etwas wie ein unaufgeregter, richtungweisender Anchorman, der sich nie überhöht und stets die Balance bewahrt. Der Berliner, im Osten der deutschen Hauptstadt aufgewachsen, kam im Dezember 2022 zum damals akut abstiegsbedrohten schwäbischen Großverein, er gilt neben Hoeneß und Wehrle als einer der wichtigsten Architekten des schwäbischen Comebacks in den Kreis der besten Bundesliga-Mannschaften. Der Höhenflug des fünfmaligen deutschen Meisters führte nach der bestandenen Relegation in der Spielzeit 2022/23 zu Rang zwei in der folgenden Saison. Und an diesem Mittwoch (20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zum DFB-Pokal, im ZDF und bei Sky) hat der Klub nun die Möglichkeit, ins Pokalfinale einzuziehen. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren. Atem- und kräfteraubende Reise durch Europa Die Gelegenheit scheint günstig, der ganz große Erfolg ist möglich. Die Bayern, an denen die Stuttgarter 2013 im Finale scheiterten, sind ausgeschieden, der nächste Gegner, RB Leipzig, hat gerade seinen Trainer Marco Rose freigestellt und spielt seit Monaten nicht zufriedenstellend. Allerdings geht auch der VfB gerade durch ein Leistungstal, ist fehleranfälliger als zuvor. Nach dem Ende der atem- und kräfteraubenden Reise durch Europa, mit sehenswerten Erfolgen wie dem 1:0-Sieg bei Juventus Turin und derben Niederlagen bei Roter Stern Belgrad (1:5) und gegen Paris Saint-Germain (1:4), sind die Stuttgarter darum bemüht, im Saisonendspurt wieder zu der spielerischen Leichtigkeit und Dynamik der vorigen Saison zu finden. Aber das fällt schwer. Externer Inhalt von Youtube Um externe Inhalte anzuzeigen, ist Ihre widerrufliche Zustimmung nötig. Dabei können personenbezogene Daten von Drittplattformen (ggf. USA) verarbeitet werden. Weitere Informationen . Externe Inhalte aktivieren Weshalb Wohlgemuth darum bemüht ist, fachlich gerechtfertigte, klare Analysen zu formulieren, ohne klischeehaftes Vokabular. Auch, um der in diesem schwäbischen Großklub mit knapp 120.000 Mitgliedern bisweilen aufflammenden Aufgeregtheit bestmöglich und wahrheitsgemäß zu begegnen. Eine verbale Übung, die dieser Mann mit der sonoren Stimme und dem berlinerischen Akzent bestens beherrscht. Unter den Managern der Fußball-Bundesliga ist Wohlgemuth neben dem Frankfurter Kollegen Markus Krösche vielleicht derjenige, der sich am gründlichsten und geduldigsten auf seine Aufgaben an der sportlichen Spitze eines die Massen bewegenden Großvereins vorbereitet hat. „Als Spieler war ich zu grob für das Feine“ Was ihm insofern leichter fiel, als der aus einer großbürgerlichen Familie stammende Vorstopper von vorgestern seinen Job von der Pike auf gelernt hat. „Als Spieler war ich zu grob für das Feine“, sagt Wohlgemuth über seine Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung als defensiver Vorarbeiter in Klubs wie dem damals noch dritt- oder viertklassigen 1. FC Union Berlin, dem ehemaligen DDR-Paradeverein BFC Dynamo Berlin oder dem Westberliner Traditionsklub Tennis Borussia. Danach kickte er noch bei der zweiten Mannschaft von Hansa Rostock und beim Chemnitzer FC mit, wo er 2004 seine Karriere nach einer Trainingsverletzung wegen Bakterienkeimen im rechten Knie beenden musste. Externer Inhalt von Opinary Um externe Inhalte anzuzeigen, ist Ihre widerrufliche Zustimmung nötig. Dabei können personenbezogene Daten von Drittplattformen (ggf. USA) verarbeitet werden. Weitere Informationen . Externe Inhalte aktivieren Für Wohlgemuth war das eine Zäsur, nach der er ein Betriebswirtschaftsstudium in Berlin begann und als Di­plomkaufmann erfolgreich beendete. In dieser Zeit des Studierens und der praktischen Weiterbildung absolvierte er auch Hospitanzen in verschiedenen Fußballklubs, beispielsweise beim 1. FC Union oder bei Werder Bremen, um sich mit den Themen Marketing, Merchandising und Finanzen besser vertraut zu machen. Wohlgemuth wechselte im Fußball häufiger die Seiten und Perspektiven und bildete sich zunächst beim Hamburger SV weiter, wo er als Trainer mit der A-Lizenz auch die U 17 des Vereins trainierte und im Nachwuchsleistungszentrum unter anderem die Scoutingabteilung mit aufbaute. „Dann machte ich halt“ 2011, fünf Jahre später, zog er weiter nach Wolfsburg, wo er beim VfL noch von Sebastian Hoeneß’ Vater Dieter, damals Geschäftsführer des Bundesligaklubs, 2011 einen Vertrag als Nachwuchschefscout und wenig später als Leiter der Nachwuchsabteilung unterschrieb. Kaum dort angekommen, erlebte er den Wechsel von Hoeneß zu Felix Magath. „Der fragte mich nach kurzem Schweigen beim Kennenlernen: ‚Wer sind Sie?‘ Dann hat er gesagt: ‚Na gut, dann machen Sie halt.‘ Und dann machte ich halt.“ Sieben Jahre lang machte Wohlgemuth in Wolfsburg. Er machte seine Sache wohl so gut, dass auch sein Anteil an zwei deutschen A-Jugendmeistertiteln mit späteren Profis wie Maximilian Arnold, Robin Knoche oder Julian Brandt nicht unbeträchtlich war. Wohlgemuth, als Fußballfachmann längst anerkannt, durfte in Wolfsburg bleiben, als Magath, der manchmal strenge, manchmal rätselhafte, manchmal joviale Wolfsburger Meistertrainer von 2009, als 2011 zurückgekehrter Sportgeschäftsführer und Trainer 2012 mitsamt einer Reihe von Mitarbeitern gehen musste und vom umgänglicheren Klaus Allofs abgelöst wurde. Im Gespräch: Fabian Wohlgemuth und VfB-Trainer Sebastian Hoeneß (rechts) Picture-Alliance Beim Blick zurück auf seine letzte Station im Jugendfußball sagt Wohlgemuth heute: „Nach sieben intensiven Jahren in diesem Bereich hatte ich dann das Gefühl, mal was anderes machen zu wollen.“ Er fühlte sich reif dafür, in der ersten Reihe eines Profiklubs Verantwortung zu übernehmen. Im Juni 2018 unterschrieb er beim damaligen Zweitligaverein Holstein Kiel seinen ersten Vertrag als Geschäftsführer Sport. Weil er die Geduld besaß, sich Schritt für Schritt in Richtung Bundesliga aufgemacht zu haben, ist er noch heute enger verbunden mit Weggefährten wie Nils-Ole Book, dem Sportdirektor des aufstrebenden Zweitligavereins SV Elversberg, als mit manch einem Erstligavertreter. Und er glaubt, dass diese Kollegen, die mit den Mühen der zweiten Liga vertraut sind, durchaus für höhere Aufgaben geeignet wären. „Alle, die mich manchmal fragen, wer denn für einen Job vergleichbar mit meinem für die Bundesliga infrage komme, verweise ich gerne auf Fachleute, die es in der Zweiten Bundesliga umsichtig und gut machen.“ „Kein Netz und keinen doppelten Boden“ In Kiel fühlte sich Wohlgemuth rund eineinhalb Jahre lang wohl, bis er dort im Herbst 2019 freigestellt wurde. Im folgenden Frühjahr schloss er sich dem Zweitligakonkurrenten SC Paderborn an und genoss die „schlanken Strukturen“ eines Vereins, in dem, wie er sagt, „fünf, sechs Personen, erfolgreiche Mittelständler“, das Sagen hatten – darunter der heutige CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, Vizepräsident des Klubs. „Da gab es Vertrauen, kurze Wege und klare Kanten nach dem Motto: ‚Hier sind die sportlichen und wirtschaftlichen Ziele, inhaltlich legen wir es in deine Hände.‘“ In Paderborn arbeitete Wohlgemuth eng mit den Trainern Steffen Baumgart und Lukas Kwasniok zusammen. Seine beiden Stationen in der zweiten Liga betrachtet er als besonders wertvoll auf dem Weg nach ganz oben. „Die Struktur dieser Vereine gibt einerseits größere Gestaltungsspielräume, andererseits steht man aber auch schnell in der direkten Verantwortung. Da gibt es kein Netz und keinen doppelten Boden.“ Mag sein, dass der Step-by-step-Aufsteiger noch heute in Paderborn arbeiten würde, wäre da nicht die Anfrage aus Stuttgart im Dezember 2022 gekommen. Dem VfB drohte der dritte Abstieg in die Zweite Bundesliga, seit 2016 und 2019. So wurde Wohlgemuth Nachfolger des freigestellten Sportdirektors Sven Mislintat. „In extremen Momenten entstehen besondes stabile Beziehungen“ „Dass wir im Jahr danach Vizemeister werden konnten, hat zu der Zeit niemand geahnt“, sagt Wohlgemuth heute über seine Stuttgarter Anfangszeit, in der er gemeinsam mit dem Vorstandsvorsitzenden Alexander Wehrle den Trainer Bruno Labbadia durch Sebastian Hoeneß ersetzte. Fast auf den Tag genau zwei Jahre ist das her, der VfB war damals Tabellenletzter. Aber der Klub hatte den Trainer gefunden, der ihn wiedererstarken lassen konnte. „In guten wie in schlechten Tagen: Sebastian war der vierte Trainer in der Spielzeit 2022/23 und für uns so etwas wie die finale Trainerentscheidung. In der relativ kurzen Zeit der Zusammenarbeit haben wir das Klavier einmal von links nach rechts bespielt, und natürlich entstehen in diesen extremen Momenten besonders stabile Beziehungen“, sagt der Sportvorstand. Wettrennen nach Berlin: Jacob Bruun Larsen vom VfB Stuttgart und RB Leipzigs Willi Orban (rechts) dpa Wohlgemuth, der viele Etappen auf dem Weg in die Bundesliga bewältigt hat, bleibt auch beim VfB Stuttgart ein Lernender, einer, der sich stets verbessern will. Mit Blick auf die Perspektive des Vereins sagt er: „Wir haben festen Boden unter den Füßen, wenn wir die sportliche Zukunft planen. Das heißt, wir wissen schon im März, für welche Liga wir im kommenden Jahr unseren Kader zusammenstellen – ein enormer Vorteil, wenn man zwei Jahre zurückdenkt.“ Und zugleich will Wohlgemuth, der Anchorman, der Anker in unruhiger See, ein wenig bremsen. Trotz Champions League und Pokalhalbfinale, trotz oder gerade wegen der gestiegenen Ansprüche. „Damit der Riese beim Aufrichten jedoch nicht gleich Rücken bekommt, brauchen wir trotz aller verständlichen Erwartungen ein maßvolles Tempo“, sagt er.