Es ist eine weitverbreitete Annahme, dass die Dinge schon irgendwie so sein müssen, wie sie sind. Und es ist schwer, sich vorzustellen, wie die Dinge anders sein könnten. Genauso schwer ist es, den Moment zu erkennen, an dem es notwendig ist, Veränderungen vorzunehmen. Vor allem deshalb, weil es diesen einen Moment nicht gibt. Es gibt vielmehr eine ganze Reihe von Momenten. Was hingegen oft fehlt, ist die Dringlichkeit, der Gedanke oder die Philosophie, die Veränderung möglich macht. Nun aber scheint klar: Es geht so nicht mehr. Der Koalitionsvertrag von Union und SPD macht deutlich, dass Staatsmodernisierung ein Schicksalsthema ist. Auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, spricht davon, dass die Hauptstadt ein neues "Betriebssystem" bekommen werde durch die Verwaltungsreform, die sein Senat beschlossen hat. Es bewegt sich etwas im demokratischen Deutschland. Aber meinen alle das Gleiche, wenn sie von einer neuen staatlichen Praxis reden? Lange war das Thema Staatsreform ein Randthema, es klang staubig, gestrig, langweilig. Tatsächlich aber ist es zu einem der zentralen Konflikte unserer Zeit geworden. Zum einen deshalb, weil der Staat angegriffen wird, am deutlichsten in den USA, wo Elon Musk und Donald Trump systematisch Institutionen schwächen, die für eine funktionierende Demokratie notwendig sind. Zum anderen, weil zunehmend klarer wird, dass ein funktionierender Staat und eine funktionierende Demokratie einander bedingen. Eine grundsätzliche Ausgangsfrage, die sich bei all dem stellt, lautet: Was ist eigentlich Demokratie? Oft heißt es, dass Demokratie vor allem auf Wahlen beruht, die das Verhältnis von Vertrauen, Verantwortung und Macht linear regeln: Die Wählerinnen und Wähler haben Vertrauen in die Abgeordneten und die Parteien, denen sie per Wahl Verantwortung übertragen, die diese Abgeordneten wiederum in Macht verwandeln oder das jedenfalls versuchen. Das ist das Funktionsversprechen der repräsentativen Demokratie – und es erfüllt sich oft genug nicht mehr. Denn das Vertrauen in Demokratie, in Institutionen und den Staat ist im Sinkflug. Besonders verwirrend dabei: Offene Gegner demokratischer Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität stilisieren sich nun zu den eigentlichen Demokraten, weil sie angeblich den Volkswillen vertreten. Das verbindet die AfD mit Donald Trump und anderen populistischen Staatsfeinden. Das hält kein Mensch aus Denn die Feindschaft gegenüber dem Staat in seiner gegenwärtigen Form ist ein Bindeglied der autoritären Internationalen. Donald Trump oder die AfD wollen den Wohlfahrts- und Vorsorgestaat schleifen oder ganz abschaffen, den Sicherheitsstaat hingegen ausbauen. Sie wollen damit eine andere, autokratischere Form von Demokratie. Die Verteidigung gegen diese Angriffe wird indes nur gelingen, wenn das gegenwärtige Versagen staatlicher Praxis anerkannt und angesprochen wird – überlastete Behörden, eine byzantinische Verwaltungslogik, dysfunktionale Genehmigungsverfahren, eine zerfallende Infrastruktur. All diese Fragen werden auch im Koalitionsvertrag angesprochen, der in vielem eine ambitionierte Richtung vorgibt. Aber wie soll und wird das in der Praxis funktionieren? Und reichen die Reformen tief genug? Wenn es so ist, wie es etwa Julia Borggräfe in ihrem gerade erschienenen Buch Bürokratopia beschreibt, dass die staatliche Logik ganz grundsätzlich nicht mehr in unsere Zeit der technologischen Beschleunigung und existenziellen Unsicherheit passt, dann müsste auch die Rhetorik der Staatsmodernisierung tiefer gehen, als nur das reine Funktionieren zu fordern. © ZEIT ONLINE Newsletter Natürlich intelligent Künstliche Intelligenz ist die wichtigste Technologie unserer Zeit. Aber auch ein riesiger Hype. Wie man echte Durchbrüche von hohlen Versprechungen unterscheidet, lesen Sie in unserem KI-Newsletter. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Die Juristin und einstige Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales beschreibt den Verdruss an bürokratischen Hemmnissen, die Bildungspolitik besser zu gestalten. Ebenso illustriert sie die weitgehend fehlende Digitalisierung der Verwaltung, die auch schnelles Agieren im Fall von Pandemien oder Katastrophen ermöglichen würde. Und sie diagnostiziert, dass die Diskrepanz von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderung und staatlichem Handeln die Gefahr birgt, "dass sich ähnlich wie in der Vergangenheit autoritäre und antidemokratische Strömungen verstärken". Das zentrale Problem hierbei ist das Misstrauen zwischen Staat und Bevölkerung, das sich einerseits in einer Verwaltung äußert, die sich abschottet gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern – und andererseits einem Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat, den laut Umfragen mehr als zwei Drittel der Deutschen für überfordert halten. Borggräfe zitiert in ihrem Buch den Soziologen Niklas Luhmann, der in seinem 1968 veröffentlichten Buch Vertrauen – Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität beschreibt, dass die technische Komplexität der Zukunft eben nur mit Vertrauen zu ertragen sei, denn: "Eine unvermittelte Konfrontierung mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus."