Kennen Sie den Begriff defensive Architektur? Er beschreibt die Gestaltung von öffentlichen Plätzen und Möbeln, die verhindern soll, dass sich zum Beispiel wohnungslose Menschen länger dort aufhalten. Armlehnen in der Mitte von Bänken, die jegliches Liegen abwehren. Spitze Nieten auf dem Boden vor Schaufenstern, damit dort niemand zum Betteln kniet. Im weiteren Sinne auch blaues Licht auf öffentlichen Toiletten, damit Fixer ihre Venen schlechter finden. Das löst natürlich keines der eigentlichen Probleme (Armut, Verelendung, Wohnungsnot, Suchterkrankungen und so weiter), es treibt sie nur aus dem Blickfeld, damit man beim Flanieren nicht davon behelligt wird. Diese Art der Gestaltung wird deshalb seltener, aber sehr viel treffender, auch "feindliches Design" genannt. Und damit zu Viktor Orbán. Ungarns rechtspopulistischer Ministerpräsident mit leicht autokratischen Tendenzen ist sozusagen die menschliche Inkarnation des feindlichen Designs. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal böse darüber, einen solchen Satz über sich zu lesen. Orbán verbietet gern Dinge, vor allem aber verbietet er gern Menschen Dinge, oder gleich ganze Menschengruppen. Das macht er schon seit einer ganzen Weile so, und in aller Regel trifft es jene, die nicht in sein parklückenenges Weltbild passen. Was nicht passt, wird verboten Bevor wir gleich zu seiner jüngsten diskriminierenden Volte kommen, ein Blick zurück ins Jahr 2018. Da hat Orbán sich was ganz Besonderes gegen das Riesenproblem der Obdachlosigkeit vor allem in Budapest einfallen lassen: Er hat sie einfach verboten. Genial. Danach haben Polizisten Menschen auf der Straße entweder weggesperrt oder ihnen ihre allzu wenigen noch verbliebenen Habseligkeiten abgenommen und sie vernichtet. Oder sie – Ha! – mit Geldstrafen belegt. Ein paar Jahre später sah man viel weniger Elend auf den Straßen, denn fortan haben sich die Leute lieber versteckt. © Lea Dohle Newsletter Was jetzt? – Der tägliche Morgenüberblick Starten Sie mit unserem kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag. Erhalten Sie zudem freitags den US-Sonderletter "Was jetzt, America?" sowie das digitale Magazin ZEIT am Wochenende. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Wer ganz viel Glück in seinem Elend hatte, kam gelegentlich in einer Notunterkunft unter. Gegen die ging Orbán zwar auch schon vor, und vor allem strich er ihnen jegliche Finanzierung zusammen, aber sie gaben trotzdem nicht auf. In so einer war ich 2022 einmal. Ich habe schon häufiger ein paar wirklich finstere solcher Unterkünfte in Europa und weltweit gesehen, aber diese war wohl eine der ärmsten. Die Menschen sprachen von Glück, dass sie dort sein durften. Denn draußen lauern ja Orbáns Truppen. Wer so mit Menschen umgeht, braucht keine defensive Architektur. Von diesem Exkurs in Orbáns empathische Vermögenswerte zurück in die Gegenwart, zu seinem jüngsten Feldzug. Der richtet sich gegen so ziemlich alles, was nicht absolut heteronormativ ist. Schon im März hatte Orbán per Eilbeschluss jegliche Prideparaden im Land verboten. Dann legte er noch ein autokratisches Schippchen drauf, und nun können per Gesichtserkennung all jene identifiziert werden, die dennoch an solchen Veranstaltungen teilnehmen – und mit Geldstrafen sanktioniert werden. Das nennt man einen Überwachungsstaat. Und weil das alles noch nicht homophob und transfeindlich genug war, ließ die Regierung nun auch noch festschreiben, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Dass die Welt weder biologisch noch gesellschaftlich so binär ist, hat sich in moderneren Ländern rumgesprochen, nur mag man das in Orbáns Budapest offensichtlich nicht so gern hören. Putins Weltbild hängt auch in Orbáns Büro Darüber allein könnte man sich aufregen, zumal die Maßnahmen nur ein weiterer Baustein in einem queerfeindlichen Konstrukt des Ministerpräsidenten sind. Fast noch schlimmer, da folgenschwerer, ist aber, dass Orbán damit immer und immer wieder davonkommt, sogar Erfolg hat. Seine homophobe Politik nahm sich US-Gouverneur Ron DeSantis für wiederum seine Diskriminierungspolicy in Florida zum Vorbild. In Trumps Kreis ist Orbán bestens vernetzt, auch nach Russland pflegt er gute Kontakte. So manches Weltbild von Putin hängt auch in Orbáns Büro. Voriges Jahr empfing er freundlichst Xi Jinping. Nach der Europawahl formte Orbán eine rechtsextreme Fraktion und nervt die EU seitdem noch penetranter. Oh, und natürlich empfing er kürzlich auch Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der per Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht wird. Damit er seinen Gast nicht in Handschellen legen musste, musste Ungarn bloß aus der Gerichtsbarkeit austreten. Ach, und weil Ungarn in der zweiten Hälfte 2024 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, ging Orbán – zwar unter Schelte der EU, aber letztlich doch ziemlich unbehelligt – auf selbst ernannte "Friedensmission" und reiste nach Moskau und Peking. Ein EU-Mandat dafür hatte er nicht. (Wer sich bei so viel demokratischer Zwielichtigkeit an die AfD erinnert fühlt: You’re not alone.) Orbán spielt das Spiel nicht erst seit vorgestern Ungarn Ministerpräsident Viktor Orbán. © Bernadett Szabo/​Reuters Und in Brüssel? Da haben sie Ende des Jahres erleichtert aufgeatmet, dass diese halbjährige Posse endlich vorbei war und man zurückkehren konnte zum Tagesgeschäft. Das heißt: Gelegentlich lautes Empörtsein über Ungarns Umtriebe. Noch gelegentlicher ein paar Disziplinarmaßnähmchen, etwa die 22 Milliarden Euro an EU-Fördermitteln, die die EU seit geraumer Zeit zurückhält, weil Ungarn gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt. Und am allergelegentlichsten sagt mal jemand laut "Artikel 7". Damit ist die Drohung gemeint, Ungarn in der EU das Stimmrecht zu entziehen. Aber egal wer das sagt, alle anderen im Raum wissen ja doch, dass es nicht so weit kommen wird. Längst hat man sich in Europa schließlich an die Pöbeleien vom Donauufer gewöhnt. Und überhaupt, was ist schon ein Orbán in Zeiten von Putin und Trump? Immerhin ist er noch nirgends einmarschiert und auch nicht mächtig genug, allein an der Weltordnung zu rütteln. Das allerdings wäre ein gefährlicher Trugschluss. Orbán spielt das Spiel nicht erst seit vorgestern, er baut seinen Rechtsstaat seit Jahren kontinuierlich um und ab. Und nicht nur die Trumps und die Putins, sondern auch die Erdoğans, die Melonis und die Vučićs blasen ihm mächtig Wind in den Rücken. Wenn Europa sich gerade sowieso neu erfinden und neu zusammenfinden muss, um sich im Zweifel nicht nur ohne, sondern auch gegen die USA zu behaupten und zu verteidigen, dann sollte sie im Ostflügel ihres eigenen verstaubten Gebäudes anfangen. Orbán ist verglichen mit den anderen Problemen, die da dräuen, ein Testspiel. Wenn die EU schon daran scheitert, braucht sie es bei Trump und Putin gar nicht erst zu versuchen. Auch Orbán testet längst, wie weit er gehen kann, und bislang (also mindestens seit 2010) ist ihm kaum jemand dazwischen gegrätscht. Diese Strategie der EU wird jedoch genauso wenig aufgehen wie die Idee des feindlichen Designs. Nur weil man bei einem Problem nicht hinschaut, verschwindet es nicht.