Mit dem Aufflammen des Krisenherds Kaschmir gewinnt ein weiterer ungelöster Territorialkonflikt an brennender Aktualität. Auf einen islamistischen Terroranschlag am vergangenen Dienstag mit mindestens 26 Toten und möglicherweise pakistanischen Urhebern im indischen Kaschmir folgten gegenseitige Beschuldigungen, Ausweisungen und Schusswechsel. Jetzt droht ein weiterer indisch-pakistanischer Krieg, es wäre der fünfte seit 1947. Nur, dass inzwischen beide Seiten im Besitz von Nuklearwaffen sind. Ähnlich wie die Konfrontationen in der Ukraine und in Palästina wurzelt auch der Kaschmir-Konflikt in der Abwicklung der Welt des 19. Jahrhunderts nach 1914. Ohne den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1922 wäre Palästina den Briten nicht anheimgefallen, und ohne die britische Unterstützung (Balfour-Deklaration 1917) wäre der zionistische Traum von einem Staat der Juden nicht so schnell und nicht im gegebenen Umfang wahr geworden. Der Kaschmir-Konflikt verdankt sich der Teilung Britisch-Indiens in zwei unabhängige Staaten, Pakistan und Indien 1947. Der Ukrainekrieg wiederum geht in Teilen auf den Untergang des letzten europäischen Imperiums zurück, der Sowjetunion 1991. Was die Krisenherde in Kaschmir und Palästina zudem kennzeichnet, ist die religiöse Komponente, die in der Ukraine fehlt. Dafür sind in Osteuropa zwei traditionell konkurrierende Mächte involviert, Russland und die USA. Das ist im Kaschmir und in Palästina anders; die großen Mächte einschließlich Chinas wollen es sich weder mit Israel noch mit den Arabern verderben, nicht mit Indien und nicht mit Pakistan. Kaschmir ist heute eine dreigeteilte Region, jeweils administriert von Indien, Pakistan und China. Am Anfang stand die britische Entscheidung, die Zugehörigkeit des von Muslimen, Hindus und Buddhisten bewohnten Fürstentums Kaschmir zu Indien oder Pakistan seinem Maharadscha zu überlassen, Hari Singh. Der Fürst lavierte, träumte von eigener Souveränität. Erst zwei Monate nach Gründung der zwei neuen Staaten 1947, als pakistanische Freischärler schon den Westen seines Fürstentums erobert hatten, entschied er sich für Indien. Bis heute legitimiert Neu-Delhi damit den Anspruch auf das Territorium. Kaschmir: Vier indisch-pakistanische Kriege In vier indisch-pakistanischen Kriegen von 1947 bis 1999 und einem indisch-chinesischen Krieg 1962 schälte sich der Status quo heraus. Im Shimla-Abkommen 1972 wurde die Waffenstillstandslinie bestätigt; als „Line of Control“ (LOC) markiert sie die faktische Grenze und genießt trotz aller seitherigen Zusammenstöße und Scharmützel auch nach über 50 Jahren noch Autorität. Die Vereinten Nationen unterhalten im Grenzgebiet seit 1949 eine Beobachtermission; sie illustriert auch die Schwäche der sogenannten internationalen Gemeinschaft. Die Lage in Kaschmir wird dadurch verkompliziert, dass im indisch kontrollierten Teil seit Jahrzehnten muslimische Terrorgruppen ihr Unwesen treiben. Auf deren Konto ging auch der Anschlag vom vergangenen Dienstag, als mehrere Attentäter in der Nähe des beliebten Urlaubsorts Pahalgam 26 Menschen erschossen. 24 von ihnen waren indische Touristen, außerdem ein nepalesischer Tourist und ein lokaler Fremdenführer. Zu der Tat bekannte sich die Islamistengruppe „The Resistance Force“ (TRF), die als Anhängsel der auch im Ausland verbotenen Lashkar-e-Taiba gilt. Letztere war im November 2008 für eine Anschlagsserie in der indischen Großstadt Mumbai verantwortlich. Damals kamen 175 Menschen ums Leben. Kompliziert und undurchschaubar ist das Verhältnis pakistanischer Staatsorgane zu den diversen Terrorgruppen. Internationale Beobachter (die indische Öffentlichkeit sowieso) werfen vor allem dem pakistanischen Geheimdienst ISI immer wieder enge Verflechtungen mit verschiedenen Terrororganisationen vor, nicht nur in Indien. Pakistan gewährte schon den afghanischen Mudschahedin, die in den 1980ern gegen die sowjetischen Besatzer kämpften, Unterschlupf. Später beherbergte es Terroristen der al-Qaida und der Taliban; al-Qaida-Chef Osama bin Laden hat wohl bis zu seiner Ermordung durch US-Truppen 2011 ein Jahrzehnt lang in Pakistan gelebt. Gleichzeitig zählen die USA zu den treuesten Unterstützern Pakistans, auch des pakistanischen Geheimdiensts. Die Verbindungen wurzeln im Kalten Krieg, als das blockfreie Indien enge Beziehungen zur kommunistischen UdSSR pflegte. Heute werben sowohl die USA als auch China um Pakistan. China sieht Indien als asiatischen Rivalen und verfährt nach dem Grundsatz: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Außerdem ist Pakistan eine geographische Brücke von China zum Indischen Ozean und damit aus chinesischer Sicht eine unverzichtbare Alternative zu den Handelsrouten durch die Straße von Malakka. Dass mit Kaschmir ein weiterer Alt-Konflikt aufbricht, spricht für die Interpretation der Gegenwart als Wendezeit. Die sogenannte Nachkriegsordnung verliert an Autorität; das spielt den Akteuren mit offenen Rechnungen und unterdrücktem Groll in die Hände. Zugleich bezeugen beide Konflikte, Palästina und Kaschmir, die Unmöglichkeit eines dauerhaften Friedens ohne dauerhafte Gerechtigkeit. Das gleiche wird die Welt in Osteuropa erleben. Sicherheit „gegen“ einen Nachbarn oder Konkurrenten ist immer nur Sicherheit auf Zeit, ist aufgeschobene Konfrontation. Erst Sicherheit „mit“ kann wirklich Frieden schaffen. So war es in Westeuropa nach der Katastrophe zweier Weltkriege. Doch bei keinem der hier genannten Konflikte, weder in Kaschmir oder in Palästina noch in der Ukraine, ist eine Lösung nach dem Motto Sicherheit „mit“ auch nur irgendwie absehbar. Ordnungen altern wie Autos und Menschen Grenz- und Territorialkonflikte sind Symptome schwacher Ordnung. Und die immer noch westlich geprägte Weltordnung aus der Zeit nach 1945 schwächelt in der Tat. Das liegt in der Natur der Sache; Ordnungen altern wie Autos und Menschen. Ordnungen werden auch über Bord geworfen, sie sind nicht immer reparierbar. Und in Wende- und Übergangszeiten heißt es flexibel sein. Der Umgang der Trump-Administration mit dem osteuropäischen Krieg, der Wunsch, ihn vom Tisch zu haben, spiegelt solche Flexibilität. Der Ukrainekonflikt ist ein Anachronismus; er entspringt der Ost-West-Konfrontation des 20. Jahrhunderts. Wie der Export von Demokratie und liberaler Gesellschaftsordnung ist er ein Ding der Vergangenheit. Es gibt keinen Weltpolizisten mehr, der das durchsetzen kann, und die USA tun gut daran, es gar nicht zu versuchen. Die Schüsse in Kaschmir sollten eine Warnung sein. Wenn weltweit die Konflikte ins Rutschen geraten, wenn in Korea der Vulkan eruptiert, wenn China über die Straße von Taiwan greift – wer braucht dann die Diskussion darüber, ob die 1954 in einem Verwaltungsakt der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagene Halbinsel Krim nun zur ewig unteilbaren Ukraine gehört oder nicht? Gerade weil die Weltordnung Risse zeigt, wäre Europa gut beraten, sich wenigstens perspektivisch mit Russland ins Benehmen zu setzen und eine gemeinsame Sicherheit „mit“ auszuarbeiten, nicht „gegen“. Die Trump-USA haben das verstanden. Die Herausforderungen von morgen kommen nicht aus der Schwarzmeersteppe. Die kommen aus Afrika und Asien, aus dem Nahen und Mittleren Osten, von überall dort, wo sich das Erbe der europäischen Weltherrschaft derzeit in Luft auflöst.