Sie haben Katzen, Hühner, einen alten Hund, zehn Bienenstöcke, im Garten Karotten und Kartoffeln. Früher kam ein Wagen einer Hilfsorganisation und brachte ihnen Lebensmittel als humanitäre Hilfe. Doch dann rückte die Front vor, und der Wagen kam nicht mehr in ihr Dorf. Dessen Namen soll man nicht veröffentlichen und auch ihre eigenen Namen nicht. Die Angst, zur Zielscheibe der Russen zu werden, ist im Ort allgegenwärtig. Sie sollen also Natalia und Sascha heißen. Sie 51 Jahre alt, er 63, beide sehen mindestens zehn Jahre älter aus. Sie wurden im Dorf geboren, sie waren nie im Westen der Ukraine, ihr Haus ist klein, aber es ist ihres. Vor dem Krieg war er Lagerarbeiter, nun hat er keine Arbeit mehr, sie haben keine Kinder, keine Verwandten jenseits der Gefahrenzone und so gut wie kein Geld. Also ertragen sie die Explosionen, die Drohnen, die Angst, bisweilen den Hunger, und sie würden es wohl auch ertragen, wenn ihr Dorf in der Oblast Donezk an Russland fallen würde. Einst lebten im Ort 400 Menschen, jetzt sind es noch 100. Zu einer Seite liegt die Stadt Kramatorsk, zur anderen Tschassiw Jar, das russische Truppen im Februar dieses Jahres weitestgehend einnahmen, sie stoßen von dort gen Westen vor. Gleich in der Nähe erstreckt sich eine Hügelkette mit strategischer Bedeutung. Gelingt es der russischen Armee, sie zu erobern, liegen die Ballungsstädte Kramatorsk und Slowjansk in Reichweite für Artillerieangriffe – und das Dorf ihnen zu Füßen. Die Brücke über den Fluss Siwerskyj Donez wurde von den ukrainischen Streitkräften zerstört, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen. © Christopher Occhicone für DIE ZEIT Fast täglich schlagen in den Gärten Langstreckenraketen ein, kreisen Drohnen am Himmel. In keinem Krieg der Welt wurden diese in so großer Menge eingesetzt wie gerade in der Ukraine. Immer weiter können sie fliegen, immer mehr tödliches Gewicht tragen, immer öfter attackieren sie Zivilisten. Es ist so weit gekommen, dass im Jahr vier des Krieges selbst in winzigen Dörfern Menschen wie dieses alte Ehepaar glauben, die russische Armee schicke eine Drohne für jeden, der sich öffentlich zur Ukraine bekennt. "Es wird kommen, wie Gott will", sagt sie. "Schlimmer als der Tod ist die Heimatlosigkeit." – "Ob Ukrainer oder Russen, Hauptsache, der Krieg hört auf", sagt er. "Die Hölle auf Erden, die haben wir jetzt." Wie zum Beweis explodiert einige Hundert Meter weiter ein Geschoss, und bevor sie eiligst im Haus verschwinden, fragt er noch: "Aber die Europäer kommen uns doch zu Hilfe, oder?" © Lea Dohle Newsletter Was jetzt? – Der tägliche Morgenüberblick Starten Sie mit unserem kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag. Erhalten Sie zudem freitags den US-Sonderletter "Was jetzt, America?" sowie das digitale Magazin ZEIT am Wochenende. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Donezk, Charkiw, Cherson und Saporischschja, das sind die vier Oblasten in der Ostukraine, die Putin fordert, um einem Ende seiner Angriffe, einem möglichen Frieden zuzustimmen. Viele Dörfer und Teile der Städte in diesen Oblasten waren zu Beginn des Angriffskriegs schon einmal besetzt, wurden dann von der ukrainischen Armee wieder befreit. Andere Regionen liegen heute so nahe an der Front, dass die Bewohner oft dem Tod näher sind als dem Leben. Kyjiw Charkiw UKRAINE Kramatorsk Donezk Saporischschja Cherson Krim Derzeit von Russland besetzt ©ZEIT-Grafik Kyjiw Charkiw UKRAINE Kramatorsk Donezk Saporischschja Cherson Krim Derzeit von Russland besetzt ©ZEIT-Grafik Kyjiw Charkiw UKRAINE Kramatorsk Donezk Saporischschja Cherson Krim Derzeit von Russland besetzt ©ZEIT-Grafik Kyjiw Charkiw UKRAINE Kramatorsk Donezk Saporischschja Cherson Krim Derzeit von Russland besetzt ©ZEIT-Grafik Kyjiw Charkiw UKRAINE Kramatorsk Donezk Saporischschja Cherson Krim Derzeit von Russland besetzt ©ZEIT-Grafik Kyjiw Charkiw UKRAINE Kramatorsk Donezk Saporischschja Cherson Krim Derzeit von Russland besetzt ©ZEIT-Grafik Unbarmherziger denn je greift die russische Armee zivile Gebiete und Versorgungsstationen an, schreckt auch vor Kriegsverbrechen nicht zurück. Wir reisen von der Großstadt Kramatorsk, Sitz des Hauptquartiers der ukrainischen Armee im Donbass, sternenförmig durch Donezk. Überall fragen wir: Wie geht es den Menschen mit der Gewalt und der Gefahr, Teil Russlands zu werden? Um einen Teil der Antwort vorwegzunehmen: Die massive Offensive der russischen Armee beschäftigt die Menschen mehr als Verlautbarungen aus dem Weißen Haus. Mehr denn je geht es im Osten der Ukraine schlicht ums Überleben. In den Tagen unserer Recherche haben russische Raketen 19 Zivilisten in der Stadt Krywyj Rih und 34 Zivilisten in der Stadt Sumy getötet, weitere Zivilisten starben durch Angriffe in allen vier Gebieten, die Putin beansprucht.