Transatlantische Beziehungen: Kanadas europäische Option - warum ein EU-Beitritt möglich ist

Viele Kanadier liebäugeln mit einem EU-Beitritt. Die nötige Stimmung in der Bevölkerung ist nach Ansicht von Experten vorhanden. Doch ist das mehr als ein Anti-Trump-Impuls – und könnte Brüssel wirklich den Sprung über den Atlantik schaffen? Anzeige Eine EU-Mitgliedschaft stand bei den Parlamentswahlen in Kanada Ende April nicht zur Abstimmung – aber Umfragen zeigen, dass viele Kanadier von der Idee eines Beitritts angetan sind. Während US-Präsident Donald Trump die Beziehungen zu seinem nördlichen Nachbarn mit Strafzöllen und aggressiven Botschaften in sozialen Medien aufs Spiel setzt, fragen sich viele Kanadier, ob sie sich nicht neuen, zuverlässigeren Verbündeten annähern sollten. Der Wahlsieg des amtierenden Premierministers Mark Carney bestätigt den Anti-Trump-Trend in Kanada. Und da kommt Brüssel ins Spiel. In einer aktuellen Umfrage haben sich 44 Prozent der Kanadier für einen EU-Beitritt ausgesprochen. Nur 34 Prozent lehnten ein solches Vorhaben ab. Anzeige Lesen Sie auch Weltplus Artikel Trump-Schock Plötzlich wird Kanada zum neuen Lieblingspartner Europas Paula Pinho, Sprecherin der Europäischen Kommission, erklärte, Brüssel fühle sich „durch das Ergebnis einer solchen Umfrage geehrt“, bekräftigte jedoch, dass gemäß den Verträgen der Union nur europäische Länder für eine Mitgliedschaft infrage kämen. Auch wenn ein Beitritt Kanadas zur EU der Kommission weit hergeholt erscheinen dürfte, halten EU-Experten im Gespräch mit „Politico“ einen solchen Schritt zwar für unwahrscheinlich – aber nicht für unmöglich. Anzeige Die Argumente für einen EU-Beitritt Kanadas scheinen vor allem auf einem „Vibe“ – einer Art Stimmung – zu beruhen. Obwohl Kanada und die EU durch den Atlantik und tausende von Kilometern voneinander getrennt sind, teilen sie viele gemeinsame Interessen: starke wirtschaftliche Beziehungen, gemeinsame demokratische Werte – und die Kopfschmerzen, die Donald Trumps US-Regierung verursacht. Der Verweis von Kommissionssprecherin Pinho auf Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), wonach „jeder europäische Staat [...] beantragen kann, Mitglied der Union zu werden“ wirft Fragen auf: Gibt es über die grundlegende Geografie hinaus etwas, das ein Land europäisch macht – und könnte Kanada diese Voraussetzungen erfüllen? Lesen Sie auch Weltplus Artikel Aufholjagd der Liberalen „Er hat uns traumatisiert“ – Wie Trump den kanadischen Wahlkampf auf den Kopf stellt „Europäer zu sein, ist eher eine Frage der Einstellung“, erklärte Giselle Bosse, Professorin für EU-Außenpolitik an der Universität Maastricht, gegenüber „Politico“. „Rechtlich und formal ist ein europäischer Staat nicht wirklich definiert, und ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es europäische Staaten gab, die nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt waren“, sagte Bosse mit Blick auf EU-Überseegebiete in der Karibik, im Pazifik und in der Arktis. Kanadier seien „auf gewisse Art besondere Europäer“, unter anderem wegen ihres Vertrauens in den Sozialstaat und ihrer auf europäischen Modellen basierenden politischen und rechtlichen Systeme. Zudem hätten viele Kanadier europäische Vorfahren. Frank Schimmelfennig, Experte für europäische Politik an der ETH Zürich, sieht das ähnlich. „Kanada wäre qualifiziert, da es in vielerlei Hinsicht wahrscheinlich näher an den europäischen Werten, Institutionen und Politiken liegt als viele aktuelle Beitrittskandidaten.“ Dazu gehören die westlichen Balkanstaaten sowie die Ukraine und die Republik Moldau, die im Beitrittsprozess langsame Fortschritte verzeichnen. Aber auch die Türkei und Georgien, deren EU-Beitritt wegen Rückschritten bei Fragen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ins Stocken geraten ist. Auch wenn positive Signale aus Kanada kommen, liegt die Entscheidung über einen Beitritt ohnehin bei der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten. Begeisterten, europafreundlichen Kanadiern sollte es als warnendes Beispiel dienen, dass der Antrag Marokkos auf eine EU-Mitgliedschaft im Jahr 1987 mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es sich nicht um einen europäischen Staat handele. Viele Hürden für einen EU-Beitritt Kanadas Und so gibt es auch Experten, die die Aussichten auf einen Beitritt dämpfen. Zunächst müssten die Kanadier ihre „Europäizität“ glaubhaft belegen können. Entsprechende Umfrageergebnisse sind laut der Politikwissenschaftlerin Bosse vor allem „eine emotionale Reaktion der Kanadier“. Die 2004 zur Union beigetretenen mitteleuropäischen Länder sprachen etwa immer von einer „Rückkehr nach Europa“, einer Rückkehr an den Ort, dem sie sich historisch verbunden fühlten. Die Kanadier haben keine ähnlichen Gefühle zum Ausdruck gebracht – zumindest bisher nicht. Hinzu kommt: Eine Aufnahme Kanadas in die EU könnte in Ländern, die seit Jahrzehnten auf einen Beitritt warten, Frust auslösen, etwa in der Türkei. „Ich halte das aufgrund der Verfahren, der Lage der Union und der Erweiterung kurzfristig für nicht umsetzbar“, so Politologin Bosse. Lesen Sie auch Weltplus Artikel Geopolitik Warum eines der reichsten Länder der Welt plötzlich mit einem EU-Beitritt liebäugelt Ian Bond, stellvertretender Direktor des Thinktanks „Center for European Reform“, hält es für „äußerst schwierig, Kanada als europäisches Land zu bezeichnen“. Selbst, wenn das Land seine „Europäizität“ belegen könnte, stünden wirtschaftliche Faktoren einem Beitritt im Weg. „Kanada müsste dann eine Zollgrenze zwischen sich und den USA errichten und EU-Zölle und -Vorschriften auf Importe aus den USA anwenden. Das wäre wirtschaftlich enorm destruktiv. Es würde alle Vorteile, die sich Ottawa von einer EU-Mitgliedschaft womöglich verspricht, zunichtemachen“, so Bond. Hinzu kommt: Die Aufnahme eines neuen Mitglieds erfordere Einstimmigkeit– und in Mitgliedsländern wie Frankreich sogar Referenden. „Wie oft haben französische Landwirte für den freien Handel mit anderen Weltregionen gestimmt? Es ist wahrscheinlicher, dass sie alles in Brand setzen, um so etwas zu verhindern“, glaubt Bond. Lesen Sie auch Weltplus Artikel Wachstum und Schuldenquote Spanien vs. Frankreich – Europa hat einen neuen Musterschüler