Bei der Sozialpolitik muss die nächste Regierung Prioritäten setzen. Das Risiko ist groß, dass die Ärmsten der Gesellschaft wieder einmal vergessen werden, schreibt der Ökonom Georg Cremer. Er ist ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes und lehrt als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg. Durch die Grundgesetzänderung kann hat die künftige Regierung einen großen finanziellen Spielraum, ohne stark in den Sozialstaat einzuschneiden. Der aber ist zugleich ein Problem. Es wird sehr schwierig werden, sich auf Prioritäten zu verständigen, auch und gerade auf dem Feld der Sozialpolitik. Schon bisher wurden Debatten zu sozialpolitischen Prioritäten mit der Floskel abgewehrt, man dürfe Verteidigungs-, Klima- und Sozialpolitik nicht gegeneinander ausspielen. Damit drückt man sich aber vor der Verantwortung. Es kann passieren, dass das Sondervermögen für alles Mögliche genutzt wird und sich in zehn Jahren an den strukturellen Problemen des Landes nichts Wesentliches geändert hat. Georg Cremer Ökonom Wenn das vermieden werden soll, muss jetzt über Prioritäten gesprochen werden. Nicht über sie zu reden, bedeutet nicht, dass am Schluss nicht nach Priorität entschieden wird, sondern dann eben verdeckt. Dann aber werden sich im politischen Prozess vorrangig die Interessen der Mittelschicht durchsetzen, die wahlentscheidend ist, und der untere Rand der Gesellschaft kommt zu kurz. Die Mittelschicht will das Gießkannenprinzip Eine solche Politik entspräche durchaus weitverbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen. Zwar bekunden Bürgerinnen und Bürger in Umfragen mehrheitlich ihre Unterstützung dafür, die Armen und Menschen mit niedrigem Einkommen stärker zu unterstützen als die Mitte, solange diese Frage abstrakt gestellt wird. Wenn es aber konkret wird, dann priorisiert die Mitte sozialpolitisches Handeln, das ihr selbst nutzt. Ihr Gerechtigkeitsideal versinnbildlicht die Gießkanne. © ZEIT ONLINE Newsletter ZEIT Geldkurs Tschüss, Finanzchaos: In acht Wochen erklären wir Schritt für Schritt, wie Sie bessere Geldroutinen aufbauen und das mit den ETFs endlich angehen. Anschließend erhalten Sie unseren Geld-Newsletter mit den besten Artikeln rund um Finanzen. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Wie fair sind die bisherigen Verhandlungsergebnisse für Menschen mit geringen Einkommen? Prüft man das Sondierungspapier von Union und SPD und die bisherigen Ergebnisse der Verhandlungsgruppen, ergibt sich ein gemischtes Bild. Versprochen wird eine Stabilisierung des Rentenniveaus, ohne allerdings das Niveau festzulegen. Die von der SPD geforderten 48 Prozent sind (noch) strittig. Aber man muss wohl die bisherige Einigung so verstehen, dass der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentnerversicherung, der die Rentnerinnen und Rentner an den Kosten der demografischen Alterung beteiligt, dauerhaft aufgegeben oder zumindest deutlich geschwächt werden soll. Damit würde ein wichtiger Reformschritt, das Rentensystem zu sichern, wieder kassiert. Ob das prioritär und gerecht ist, kann man bezweifeln. Gut situierte Rentner, die hohe Renten und zudem eine längere Lebenserwartung haben, erhalten den größten Mehrertrag, Menschen mit kleinen Renten gewinnen weit weniger. Und die meisten Empfänger der Grundsicherung im Alter gehen völlig leer aus. Denn die Rente wird voll auf ihren Hilfeanspruch angerechnet. Etwas mehr Rente, dafür weniger Hilfe, der Effekt ist für sie gleich null. Damit wird bei ihnen auch die Mütterrente verpuffen, die auf Wunsch der CSU ausgeweitet werden soll. Die verdeckte Armut sollte bekämpft werden Zum Kampf gegen verdeckte Armut steht in den Dokumenten nur eine zarte Andeutung. Die Daten eines stärker digitalisierten Sozialstaats sollen dafür genutzt werden, Menschen auf Leistungsansprüche hinzuweisen. Das kann man so interpretieren, dass sich die Koalition dem Problem der hohen Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen stellen will. Dies wäre ein wichtiger Schritt hin zu einem bürgerfreundlichen Sozialstaat. Denn viele Menschen schaffen es nicht, ihr Recht auf Hilfe geltend zu machen. Allerdings müssten, damit dies Wirklichkeit werden kann, Sozialpolitikerinnen und -politiker ihre Angst vor Statistikeffekten überwinden. Denn wenn der Sozialstaat verlässlicher wird, wird zwangsläufig die Zahl der Hilfeempfänger steigen. Das kann aber, so absurd ist die Sozialdebatte, als Beleg einer wachsenden sozialen Schieflage skandalisiert werden. Im Grundsatzprogramm der CDU von 2023 hatte sich die Partei darauf festgelegt, sicherzustellen, dass die Rente von Menschen, "die 45 Jahre Vollzeit zum Mindestlohn gearbeitet und Beiträge gezahlt haben, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, deutlich oberhalb der Grundsicherung im Alter liegt". Das wäre eine Rentenpolitik, die mehr Fairness für jene schafft, die gesellschaftlich notwendige, aber eher schlecht bezahlte Arbeit leisten. Es wäre eine Rentenpolitik, die nicht dem Ideal der Gießkanne entspricht. Sie wäre für Beitrags- und Steuerzahler deutlich billiger als die Stabilisierung des Rentenniveaus auf 48 Prozent. Sie wird es aber wohl nicht in den Koalitionsvertrag schaffen. Ein anderes Problem mangelnder Fairness will die neue Koalition dagegen angehen, die sehr hohen Transferentzugsraten bei Sozialleistungen, wie der technische Begriff heißt. Familien mit niedrigen Einkommen erhalten Kinderzuschlag und Wohngeld, zwei wichtige soziale Leistungen. Beide Leistungen werden mit steigendem Erwerbseinkommen abgeschmolzen, was unvermeidbar ist. Aber die Regeln sind heute so, dass in einem großen Einkommensbereich von einem zusätzlichen Euro Einkommen kaum etwas übrigbleibt. Ob ein Paar mit zwei Kindern brutto 2.500 Euro verdient oder sich in den Einkommensbereich von 5.000 Euro hocharbeiten kann: Beim verfügbaren Einkommen der Familie macht dies nur einen Unterschied von etwa 350 Euro aus, bei hohen Mieten mit entsprechend höherem Wohngeld auch nur von 250 Euro. Dabei geht alles mit rechten Dingen zu: Mit dem steigenden Einkommen steigen Steuern und Sozialabgaben, zugleich sinken Kinderzuschlag und Wohngeld, bis sie ganz abgeschmolzen sind. Die geringe Differenz beim verfügbaren Einkommen kann sehr frustrierend sein. Der Reformbedarf wird von der Verhandlungsgruppe zu Arbeit und Soziales klar benannt. Wie viel Gießkanne in der Pflegepolitik stecken wird, ist noch nicht abzusehen. Die von Heimbewohnern selbst zu tragenden Pflegekosten sind in den letzten Jahren stark angestiegen, auch weil es erhebliche Leistungsverbesserungen gegeben hat. Nun wird angekündigt, die pflegebedingten Eigenanteile zu begrenzen. Das wird auch pflegebedürftige Menschen entlasten, die gute Alterseinkünfte oder Vermögen haben und die bisher erforderlichen Zuzahlungen stemmen können. Nicht erwähnt wird die Hilfe zur Pflege, die jene erhalten, die Zahlungen für Pflege, Wohnen und Verpflegung nicht selbst tragen können. Viele von ihnen werden auch nach der nächsten Pflegereform auf Unterstützung des Sozialamts angewiesen sein. Gerade sie gingen leer aus, wenn sich bei der Hilfe zur Pflege nichts ändert. Nur ein Beispiel: Wenn ein Partner ins Pflegeheim muss und auf Sozialhilfe angewiesen ist, kann es passieren, dass dem nicht im Heim lebenden Partner, dessen Einkommen bei Berechnung der Höhe der Hilfe ebenfalls angerechnet wird, kaum mehr verbleibt als die Sozialhilfe. Das muss von Betroffenen, die lebenslang gearbeitet haben, als besondere Härte empfunden werden. Mehr Fairness für den unteren Rand der Mitte wird nicht gelingen, wenn wir uns einer Debatte zu sozialpolitischen Prioritäten verweigern.