Friedrich Merz: Wo ist der Aufbruch?
Wann war ein deutscher Politiker zuletzt derart zum Erfolg verdammt? Friedrich Merz musste eine Regierung bilden, während Donald Trump mit der Ukraine und mit Europas Sicherheit pokert und für seinen Zollspleen den Welthandel und die Weltwirtschaft in Geiselhaft nimmt – und mittendrin ein verunsichertes, wirtschaftlich wie politisch geschwächtes Deutschland, das sich behaupten muss. Furchtsam wirkt Merz angesichts dieses Epochenbruchs nicht, das ist gut und wichtig. Doch schon das Wahlkämpfen und das Anbahnen der Koalition fielen dem Mann ohne Regierungserfahrung schwerer als gedacht: Merz, der glanzlose 28-Prozent-Wahlsieger, der mit einer 16-Prozent-Wahlverliererin SPD ein Bündnis bilden musste, stand im Gegenwind, zu großen Teilen selbst verschuldet. Jetzt steht die Koalition, auch das gut und wichtig. Und das Ergebnis? Ist ein Bündnis, das sich tatsächlich daran machen will, überfällige Reformen anzugehen, mit dem Ziel, das angeschlagene Land in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Ja: Grenzkontrollen, Steuersenkungen, Abschreibungen für Unternehmen, all das steht in dem am Mittwoch präsentierten Koalitionsvertrag. Doch ein großer Wurf ist der nicht. Dabei wäre genau das angesichts der Herausforderungen nötig gewesen. Modus der Halbentschiedenheit Vielmehr zieht sich durch das Papier ein Modus der Halbentschiedenheit, der zu einer leidenschaftslosen Präsentation der Parteichefs im Paul-Löbe-Haus des Bundestags passte, verkörpert in erster Linie durch Friedrich Merz. Der CDU-Chef, der von vielen Zweifeln begleitet den nächsten Schritt zum Kanzleramt nimmt, sprach zwar durchaus von Aufbruch und Zukunft – doch seinen Glauben daran konnte er nicht wirklich vermitteln. Merz nannte den Vertrag ein "starkes Signal" an die Bürger, bot dann allerdings reichlich Klein-Klein: Er ratterte wie auf einem Pflichttermin eine lange Liste von Vorhaben in der Wirtschafts-, Migrations- und Sozialpolitik ab. Ja, es war die Rede von Mut und Zuversicht, nur fühlte sich nichts danach an. Sicher ein Ausdruck der enormen Anspannung dieser Tage, doch auch eine vertane Chance. © Lea Dohle Newsletter Was jetzt? – Der tägliche Morgenüberblick Starten Sie mit unserem kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag. Erhalten Sie zudem freitags den US-Sonderletter "Was jetzt, America?" sowie das digitale Magazin ZEIT am Wochenende. Registrieren Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis. Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt. Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement. Diese E-Mail-Adresse ist bereits registriert. Bitte geben Sie auf der folgenden Seite Ihr Passwort ein. Falls Sie nicht weitergeleitet werden, klicken Sie bitte hier . Das von vielen Bürgerinnen und Bürgern herbeigesehnte (und auch von Merz selbst im Wahlkampf versprochene) Projekt, Deutschland wieder stark und wettbewerbsfähig zu machen, ist außerdem von Widersprüchen durchzogen, die sich schon beim zweiten Blick auf die Ergebnisse offenbaren. In der Sozialpolitik etwa schreckt die Koalition abgesehen von Änderungen beim Bürgergeld vor dringend nötigen Reformen bei Rente, Pflege und Gesundheit zurück. Und gründet dafür Arbeitskreise. Die Kosten, auch die Lohnnebenkosten, werden weiter steigen. Selbst bei der Verteidigung, wo Geld seit der Grundgesetzänderung im März kein Problem ist, stockt der Reformeifer. Bei der Wehrpflicht – ein entscheidender Baustein der nötigen Verteidigungsfähigkeit – landete man am Ende gerade mal beim Status Quo der Ampel: Ein freiwilliger Wehrdienst soll ausprobiert werden, in der Hoffnung, dass sich schon genügend junge Männer und Frauen melden. Soll das reichen, um Russland abzuschrecken? Und bei auch bei den Finanzen bleibt es vage: Trotz des 500-Milliarden-Euro-Sondervermögens stehen ausdrücklich alle Vorhaben im Koalitionsvertrag unter Finanzierungsvorbehalt. Bürokratieabbau – aber doch nicht bei uns Merz' Wahlkampfversprechen bei der Migration finden sich im Vertrag wieder. Aber ist es wirklich ein Zeichen des Aufbruchs, dass besonders gut integrierte Ausländer künftig erst nach fünf, und nicht nach drei Jahren eingebürgert werden können? Merz' symbolträchtigstes Vorhaben könnte hinter dem zurückbleiben, was er mit großer Geste für Tag eins seiner Kanzlerschaft angekündigt hatte: Zurückweisungen an den deutschen Grenzen sind nun zwar offizielle Politik von Schwarz-Rot – allerdings weiterhin "in Abstimmung" mit den Nachbarn, der aus dem Sondierungspapier bekannten schwammigen Formulierung. Auf Nachfrage erklärte Merz: "Abstimmung heißt Abstimmung." Gespräche mit Nachbarländern sollen bereits laufen. Doch die Augen der SPD-Chefs neben ihm verrieten: Dieser Punkt ist alles andere als geklärt, praktischerweise platziert die SPD für den kommenden Streit einen eigenen Staatsminister für Migration in Merz' Kanzleramt. Beim Bürokratieabbau will die Koalition mit konkreten Vorhaben untermauern, dass sie es wirklich ernst meint: Pro Jahr soll etwa der Apparat der Bundesbediensteten um zwei Prozent schrumpfen. Das Lieferkettengesetz fällt weg, Genehmigungsverfahren sollen schneller werden. Auch das von Merz versprochene Digitalministerium, das endlich den Staatsapparat modernisieren soll, kommt. Es ist ein guter Ansatz. Da allerdings kein Ministerium wegfällt, kommt die von Merz ebenso versprochene Verkleinerung des Kabinetts nicht, stattdessen gibt es ein Ministerium mehr. Ein seltsames Signal einer Koalition, die den Staatsapparat beschneiden will, aber nicht bei sich selbst anfangen mag. Merz' Hypothek Und dann Merz' Herzensthema Wirtschaft und Steuern: Firmen können in den kommenden Jahren zwar mehr Abschreibungsmöglichkeiten nutzen als zuvor, die Körperschaftssteuer sinkt dann allerdings erst ab 2028. Für eine Volkswirtschaft, deren Unternehmen gerade jetzt in Turbulenzen sind, ist das reichlich spät. Auch Bürgerinnen und Bürger müssen auf niedrigere Einkommensteuern bis mindestens 2027 warten. Für die Lieblingsprojekte von CSU und SPD hingegen, deren Ballung schon im Sondierungspapier von Anfang März für Irritationen sorgte, gibt es grünes Licht: Für Mütterrente, Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie, und auch die Rückkehr zu Subventionen für den Agrardiesel stehen Milliarden jetzt zur Verfügung. Es fällt schwer, hierbei Merz' Diktum, jede Maßnahme müsse die Wettbewerbsfähigkeit des Landes voranbringen, erfüllt zu sehen. Überhaupt waren es die beiden kleineren Koalitionspartner anstelle der CDU, die an diesem Mittwoch der Koalition ihren Stempel aufdrückten. Die CSU brachte ihre von der CDU kritisch beäugten Lieblingsprojekte durch, die Wahlverliererin SPD bekommt sieben Ministerien (die CDU nur sechs, die CSU drei). All dies atmet mehr den Geist früherer Großer Koalitionen als den eines Politikwechsels in neuen Zeiten. Markus Söder und Lars Klingbeil, den Chefs von CSU und SPD, gelang es links und rechts von Merz denn auch um so mehr, ihre Vorhaben in größere, lebendigere Erzählungen einzubetten als dem Kanzler in spe selbst. Söder und Klingbeil wirkten – zumindest in der Momentaufnahme – gar stärker als Merz. Ein Koalitionsvertrag und dessen Präsentation entscheiden nicht über das Schicksal einer Regierung. Sie muss sich im Alltag beweisen. Und doch braucht es eine überzeugende gemeinsame Erzählung für Friedrich Merz, wenn er als Kanzler reüssieren will, genauso wie für seine Regierung, wenn sie es wirklich besser machen will als die Ampel. Laut aktueller Umfragen ist nur jede vierte Wählerin mit Merz zufrieden, traut ihm nur jede Dritte zu, ein guter Bundeskanzler zu werden. Die AfD droht seine Union erstmals zu überholen. Das ist seine ganz eigene Hypothek, neben allen geopolitischen Krisen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Und sie ist mit diesem Mittwoch nicht kleiner geworden.