An dieser Stelle ein herzlicher Dank an die Jury des Internationalen Booker-Preises, denn die hat jetzt den Berlin-Roman eines italienischen Autors auf ihre Shortlist gesetzt, den wir hier, als er vor zwei Jahren auf Deutsch erschien, einfach komplett übersehen hatten, obwohl uns das im Herzen angeht. Gut, wir übersehen ja jeden Tag eine mittlere zweistellige Zahl an Büchern, die sich passiv-aggressiv um uns herum zu Jahresringen des schlechten Gewissens stapeln. Übrigens sind diese unheimlichen Stapel der übersehenen Bücher vielleicht der wahre Grund, aus dem wir hier von der ZEIT in Berlin vor einer Weile in ein Gebäude mit strengem Bücherverbot umgezogen sind, weil es in Großraumbüros keine Bücherregale mehr gibt. Der Verlag will uns einfach vor diesen bedrängenden Ungetümen schützen. Das ist nobel. Das schlechte Gewissen ist seitdem unsichtbar, aber jetzt zum Beispiel wäre ich in einer Redaktion mit Buch-Erlaubnis einfach zu einem der Stapel oder einer der Regalreihen gesammelter literarischer Klugheit gegangen und hätte mir dieses schöne, schmale Buch von Vincenzo Latronico mit dem Titel Die Perfektionen herausgezogen und wäre darin versunken und hätte so erfahren, dass Latronico diese Liebesgeschichte moderner Webdesigner, die vor ein paar Jahren den idealen Ort ihres Lebens in Berlin gefunden haben, dass er dieses Buch nach dem Vorbild von Georges Perecs vor sechzig Jahren erschienenem Roman Die Dinge konzipiert hat, der vor neun Jahren auf Deutsch bei diaphanes wieder aufgelegt worden ist. Und so hätte ich mich also in Perec verloren und von dort aus tiefer und tiefer in der "Werkstatt für Potenzielle Literatur" der Oulipoten, denen er angehörte. Aber – stopp. Die Bücher sind nicht da, und wir haben nicht viel Platz. Und Die Perfektionen (übersetzt von Verena von Koskull, Claassen Verlag) habe ich jetzt auf dem Bildschirm gelesen. Es ist ein fantastischer Roman über die Jahre der unendlichen Möglichkeiten in Berlin, als das Leben billig und der Raum unendlich war, in denen junge Menschen aus der ganzen Welt in dieser Stadt ihre Utopie der Freiheit lebten. Es ist die Liebesgeschichte von Anna und Tom und des Phantasmas, des Mythos Berlin. "Damit, diesen Mythos zu erschaffen, waren Anna und Tom ihr gesamtes erstes Jahr in Berlin beschäftigt gewesen, sofern sie nicht gerade einen ihrer Umzüge organisierten." Die perfekte Verkörperung dieser Utopie ist der stillgelegte Flughafen Tempelhof. Ein gigantisches Nichts im Zentrum von Europas Metropole. "Fünf Quadratkilometer reines Potenzial. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeikamen, empfanden Anna und Tom eine Art Schwindel. Für eben diesen Schwindel waren sie hier." Wie in Perecs Die Dinge gibt es auch in Latronicos Roman keine Dialoge. Die Liebe zwischen Anna und Tom und Berlin spielt sich an den Oberflächen, den Gegenständen, die sie umgeben, ab. Und an den Bildschirmen, vor denen sie den Großteil ihres Lebens verbringen, denn an den Bildern, die sie dort aus aller Welt erreichen, richten sie ihr Leben aus. Es endet nicht gut. Die Leere Berlins, die einst so verheißungsvoll war, hat von ihnen selbst Besitz ergriffen. Sie fliehen die Stadt, fliehen sich selbst. "Ohne darüber reden zu müssen, fühlten Anna und Tom sich von der Sehnsucht erdrückt. Was machten sie hier?" Wohin flieht man vor dieser großen inneren Leere? Der Roman weiß keine Antwort. Wir hätten immerhin eine erste Idee: sie mit herrlichen Büchern füllen. In Regalen, auf dem Boden, auf den Tischen. Manche Wunder der Zukunft liegen in der Vergangenheit.