Mid-TV“, was so viel heißt wie „lauwarmes Fernsehen“, nennt man in den USA, was dabei herauskommt, wenn die Streamingdienste die (vermeintlichen) Präferenzen ihrer Zuschauer mithilfe von Algorithmen auswerten. Vermeintlich, weil dem Publikum bloß Varianten dessen vorgeschlagen werden, was es bereits gesehen und für gut befunden hat. Den Streamern erscheint dies als Garant für Treffsicherheit. Sie produzieren immer neue, schön anzusehende fade Kopien. „Dexter: Original Sin“, der zweite Ab­leger der Serie „Dexter“ nach den Krimis des Schriftstellers Jeff Lindsay, ist ein Paradebeispiel dafür: Er ist schön gefilmt, gut besetzt, solide geschrieben und doch bloß ein langweiliger, überflüssiger Cousin des herausragenden Originals. Die siebenteilige Serie von Clyde Phillips, der schon bei „Dexter“ und seinem ersten, zehnteiligen Ableger „New Blood“ das Szepter führte, wirft einen Blick zurück auf die Jugend der Titelfigur, die ihre Zuschauer in der von 2006 bis 2013 zu sehenden Originalserie in diese beunruhigende Zwickmühle lockte: Dexter (Michael C. Hall) ist seit dem Mord an seiner Mutter in seiner Kindheit von einem unheimlichen Tötungsdrang besessen. Er kanalisiert ihn unter dem Deckmäntelchen des Blutspuren-Analytikers bei der Polizei von Miami. Er ist ein psychopathischer Racheengel, der heimlich Killer umbringt, die durch die Maschen des Justizsystems schlüpfen konnten. Vergreife dich ausschließlich an Mördern Sein eigener Stiefvater, der Polizist Harry Morgan (James Remar), gab ihm einst einen Leitfaden: Vergreife dich ausschließlich an Mördern, versichere dich, dass dein Opfer schuldig ist, und lass dich nicht erwischen. Dexter, der in Kommentaren aus dem Off Einblick in sein Ich gab, war so sorgfältig wie verstörend gezeichnet; die Spannung um die Aufrechterhaltung von Harrys Kodex wurde geschickt variiert, und die Düsternis von Dexters Innenleben kontrastierte wirksam mit dem sonnendurchfluteten Gute-Laune-Vibe von Miami. Externer Inhalt von Youtube Um externe Inhalte anzuzeigen, ist Ihre widerrufliche Zustimmung nötig. Dabei können personenbezogene Daten von Drittplattformen (ggf. USA) verarbeitet werden. Weitere Informationen . Externe Inhalte aktivieren Die Serie gehörte zum Besten, was uns die „schwierigen Männer“ der amerika­nischen TV-Renaissance zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu bieten hatten. Ein verkorkstes Finale und zutiefst enttäuschte Fans sorgten für eine Fortsetzung – 2021 mit „New Blood“, in der es um den rechtschaffenen Psychopathen und seinen inzwischen erwachsenen Sohn Harrison (Jack Alcott) ging. Das war der Versuch eines würdigen Abschlusses. Dort setzt „Original Sin“ nun an: Im Sterben liegend, erinnert sich Dexter (Michael C. Hall, der im Folgenden nur noch als Erzähler aus dem Off auftritt) an seine Jugendtage. Dummerweise sind die Ereignisse aus zahlreichen Rückblicken des Originals bekannt; neu ist immerhin der Schauwert der Figuren als junge Leute: Dexter wird gespielt von Patrick Gibson, der Hall hinreichend ähnelt, aber dessen Intelligenz nicht zu vermitteln mag; Harry verkörpert Christian Slater, der schon andere schräge Väter („Mr. Robot“) gespielt hat; Molly Brown ist die jüngere Version von Dexters Schwester Debra (im Original von Jennifer Carpenter gespielt). Dexters Kollegen bei der Miami Metro Police treten ebenfalls fünfundzwanzig Jahre verjüngt in Erscheinung. Ansonsten ist fast alles beim Alten – der Soundtrack (Ohrwürmer der Achtziger und Neunziger) besticht ebenso wie die dynamische Kameraarbeit, das Grauen ist gekonnt inszeniert, hin und wieder folgt eine schockierende Wendung. Die erzählerische Eleganz, die „Dexter“ auszeichnete, die Gratwanderung der Titelfigur zwischen Normenverachtung und Regelverhaftung, zwischen emotionaler Absonderung und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit sucht man hier indes ver­gebens. Stattdessen verlegt sich „Original Sin“ aufs Erklären: „Diese Gefühle, die ich habe – ich kann sie nicht ignorieren“, klagt der junge Dexter, obwohl wir bereits ge­sehen haben, dass der ersehnte Rausch sich weder in der Pathologie im Medizinstudium noch bei den Jagdausflügen mit Harry einstellt. Aber falls man es wirklich noch immer nicht kapiert hat, fragt Dexter diesen: „Du hast mir den Code beigebracht, um meinen Drang zu kanalisieren, aber wozu ist das gut, wenn ich ihn nicht nutzen kann?“ Da dauert es dann glück­licherweise nicht mehr lange, bis ihm sein erstes Opfer über den Weg läuft. Wer „Dexter“ gesehen und goutiert hat, dem bietet sich hier wenig. Wer neu dabei ist, dem sei das Original empfohlen. Und wem der herausragende Michael C. Hall fehlt, der kann auf einen weiteren Ableger hoffen: „Resurrection“, die Wiederauferstehung unseres Helden, die sich zu Beginn von „Original Sin“ ankündigt, als Dexter sagt: „Ich habe den Tod viele Male gesehen – nur noch nie meinen eigenen.“ Die einst legendäre TV-Figur kommt so bald nicht zur Ruhe.