Schussfahrt in den Abgrund: Mann soll die Pflegekasse betrogen haben, als er Krebs bekam Von: Tom Sundermann Drucken Teilen Der Prozess findet am Landgericht München II statt. © IMAGO / Ralph Peters Ein 55-jähriger Mann aus Ebersberg steht vor Gericht: Er soll die Pflegekasse abgezockt haben, während er an Krebs erkrankt war. Es sind Einblicke in ein schlimmes Schicksal. München - Wie ein gewiefter Betrüger sieht Paul E. nicht aus. Einigermaßen müde sitzt der 55-Jährige auf der Anklagebank im Landgericht München II und streicht sich die halblangen Haare aus dem Gesicht. Er leidet an chronischer Erschöpfung, bereits der Weg von seiner Wohnung nahe Ebersberg in die Landeshauptstadt dürfte ihn Kraft gekostet haben. Für die Justiz spielt das eine untergeordnete Rolle, dort gibt es über Paul E., der eigentlich anders heißt, bereits ein Urteil: schuldig des Betrugs an einer Pflegekasse über rund 2200 Euro. Zu dem Schluss war das Amtsgericht Ebersberg im August 2024 gekommen und hatte eine Geldstrafe verhängt, 90 Tagessätze, insgesamt 6300 Euro. E. soll zwischen 2021 und 2023 zu Unrecht Pflegegeld kassiert haben. Staatsanwaltschaft geht von mehr als 13 000 Euro Schaden aus In einem Strafbefehl, der dem Urteil vorausgegangen war, war die Staatsanwaltschaft noch von mehr als 13 000 Euro Schaden ausgegangen. Davon hatte sich vor Gericht nur ein kleiner Teil bewahrheitet. So wie auch die Geschichte von Paul E. eben nicht die eines gewissenlosen Abzockers ist, sondern von einem Mann, dessen Leben eine Schussfahrt in den Abgrund vollführt hat. Die beginnt mit einer Krebsdiagnose. Die Krankheit ist aggressiv, sie wird dem Angeklagten nur noch wenige Jahre lassen. Aggressiv auch die Medikamente, die er nehmen muss: „Meine Nieren werden demnächst versagen“, sagt E. Dann die ständige Müdigkeit. Ab April 2021 pflegt ihn seine Frau. Sie kocht, kauft ein, geht mit ihm spazieren. Auch das ist Pflege und begründet einen Anspruch auf Pflegegeld, das er bald darauf beantragt. Eine Tochter und ein Sohn bringen sich ebenfalls ein. Angeklagter bestreitet die Vorwürfe Doch zur Pflege gehört auch Bürokratie – Anträge, Gutachten, Stellungnahmen. Es geht um seinen Pflegegrad und die Frage, wer gerade für seine Betreuung zuständig ist. Eigentlich muss Paul E. die Kasse dazu stets auf dem neuesten Stand halten. Doch das klappt nicht so, wie es soll. Die Kasse und später die Justiz kommen zu dem Schluss: Es gab Zeiten, in denen er Geld erhielt, aber keine Pflege in Anspruch nahm. Paul E. bestreitet das, deshalb hat er Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts eingelegt. Leicht nachzuvollziehen ist all das nicht. Zumal das Schicksal mit dem Angeklagten noch lange nicht fertig war. Seine Ehe hält dem neuen, dem kranken Leben nicht stand. Scheidungsverfahren, Immobilie wird versteigert, der Sohn einen Zusammenbruch Nach gut einem Jahr zieht Paul E. aus: „Ich habe ein Bett, einen Schreibtisch und einen Stuhl mitgenommen.“ Ab da sind es der Sohn und die Tochter, die sich um ihn kümmern. In den folgenden Jahren zieht sich das Scheidungsverfahren, eine Immobilie wird versteigert, ein anderer Sohn hat einen psychischen Zusammenbruch. Und dazwischen: der Papierkram. Mindestens in einem Schreiben an die Pflegekasse schludert Paul E., wie er zugibt. „Ich war schlicht überfordert“, sagt er. Es ist eine Geschichte, die schließlich auch dem Staatsanwalt einleuchtet. Er stellt das Verfahren ein, gegen eine Zahlung von 500 Euro an die Kinderkrebshilfe Ebersberg.